Notfall Klimawende: Wärme und Kälte im Klinikbetrieb
Charité CFM Facility Management GmbHC und Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin wollen gemeinsam kaltes Nahwärmenetz für größtes Universitätsklinikum Europas entwickeln.
Berlin, 8. November 2024 – Der Einsatz medizinischer Geräte wie MRT- und CT-Scanner, Computer-Server zur Verarbeitung und Speicherung enormer Datenmengen und auch die Kühltechnik in einer Klinik verbrauchen viel Strom und erzeugen erhebliche Mengen an Abwärme. Um ihre Energieeffizienz zu verbessern, setzt die Charité bereits heute auf erneuerbare Energien und hat ihre CO2-Emissionen signifikant gesenkt. Dennoch bleibt Potenzial zur weiteren Reduzierung des Verbrauchs und zur Nutzung von Wärmequellen, insbesondere durch innovative Technologien und nachhaltige Baupraktiken.
Kaltes Nahwärmenetz für die Charité
Die Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin) und die Charité CFM Facility Management GmbH (CFM) wollen gemeinsam ein kaltes Nahwärmenetz für Europas größtes Universitätsklinikum entwickeln und unterzeichneten am 31. Oktober 2024 eine entsprechende Absichtserklärung. Im Zuge des vom Land Berlin ausgeschriebenen Förderprogramms „Wertschöpfung durch Innovation im Quartier“ soll ein wirtschaftsorientiertes Reallabor entstehen, das in der Praxis erprobt, wie Energie- und Wärmeversorgung mittels kalter Nahwärme klimaverträglich gestaltet werden kann.
Schlüsseltechnologie für die Wärmewende
Der vermeintliche Widerspruch in der Begrifflichkeit dieser Schlüsseltechnologie für die Wärmewende beruht auf einem einfachen Prinzip: kalte Nahwärme nutzt die natürliche Wärme der Erde. In der Erde verlegte Rohre leiten Wärme an eine temperaturleitende Flüssigkeit weiter, die durch eine Pumpe in die Gebäude gelangt und dort für Heizung und Warmwasser sorgt. Die Temperatur ist geringer als bei klassischen Heizsystemen – daher der Name „kalt“ – und kann im Sommer auch zur Kühlung eingesetzt werden. Mit Solarstrom betrieben, wird hier ohne fossile Brennstoffe klimaneutral geheizt und gekühlt.
Energieeffizienz für historische Klinikgebäude
Die Umstellung auf kalte Nahwärme ist komplex – technische, organisatorische und regulatorische wie auch finanzielle Hürden müssen überwunden, Akzeptanz für die innovative Technologie geschaffen werden. Hinzu kommt, dass viele der über das Stadtgebiet verteilten Charité-Gebäude mit ihren insgesamt
45 000 Räumen und einer Fläche von einer Million Quadratmetern unter Denkmalschutz stehen. Beide Projektpartner sind überzeugt, dass sich Aufwand und Investition in das Vorhaben mit dem Titel „Kalte Nahwärmenetzte für Autarkie im Quartier“, kurz KWArtier, lohnen.
Energiekreislauf: Coole Lösungen für warme Räume
„Durch die Implementierung solcher Systeme könnte die Charité nicht nur ihre Energiekosten weiter senken, sondern auch einen bedeutenden Beitrag zum Klimaschutz leisten, indem sie ihre CO2-Emissionen weiter reduziert“, sagt Simon Batt-Nauerz, Geschäftsführer der CFM. Die Charité würde in dem kalten Nahwärmenetz die im Sommer durch Kühlung anfallende Abwärme im Erdboden speichern, statt sie an die Umgebungsluft abzugeben. Das reduziert den sogenannten Hitzeinseleffekt in städtischen Quartieren, der dadurch entsteht, dass die vielen versiegelten Flächen Sonnenstrahlung absorbieren und die Umgebung aufheizen. Die gespeicherte Wärme wird im Winter für die Heizung der angeschlossenen Räume genutzt.
Das für die Abwärmespeicherung geplante Erdsondenfeld – ein Feld mit geothermischen Bohrungen bis 100 Meter Tiefe – ermöglicht außer der Kühlung von Computerserverzentren zum Beispiel auch die passende Temperierung von Patientenzimmern in heißen Sommern. Denn die Auswirkungen des Klimawandels sind auch in Berlin schon heute zu spüren und belasten Patientinnen und Patienten wie auch das Personal in den Kliniken. Die Hitzebekämpfung sieht Simon Batt-Nauerz als eine der größten Herausforderungen in der Infrastrukturentwicklung an und hält das angewandte Forschungsprojekt für einen vielversprechenden Lösungsansatz.
Enorme Reduzierung der CO2-Emmissionen
Eine Machbarkeitsprüfung der Deckenheizung und -kühlung für Patientenzimmer, die im Zuge des Projektantrags am Charité Campus Virchow-Klinikum durchgeführt wurde, ergab, dass der Deckungsanteil der Heizung bei 96 Prozent und der Kühlung bei 90 Prozent liegen würden. Mit einer Ausweitung des Projektes auf den gesamten Campus könnte die aktuell erreichbare Reduktion von jährlich 110 Tonnen CO2-Emmissionen auf 806 Tonnen pro Jahr gesteigert werden. Die Stadt würde durch notwendige Kühlung nicht weiter aufgeheizt.
Wegweisendes Reallabor zur Nutzung regenerativer Wärme- und Kältequellen
Sollte die HWR Berlin den Zuschlag für das Vorhaben vom Land Berlin bekommen, würde es im April 2025 mit der detaillierten Planung losgehen. KWArtier wäre ein Leuchtturmprojekt mit Strahlkraft weit über Berlins Grenzen hinaus. Bisher fehlen Umsetzungsbeispiele für kalte Nahwärmenetze in Bestandsquartieren, führen die Forschungsprojektleiterinnen Prof. Dr. Andrea Pelzeter und Prof. Dr. Silke Bustamante an.
Die Wissenschaftlerinnen der HWR Berlin wollen gemeinsam mit ihrem renommierten Praxispartner vorführen, wie regenerative Wärme- und Kältequellen nutzbar gemacht werden können. Dafür soll ein modulares System getestet werden, das je nach Bedarf in anderen Quartieren angewendet und erweitert werden kann. Außerdem sollen neue Geschäftsmodelle rund um kalte Nahwärmenetze erarbeitet werden – damit geht es in diesem Reallabor zum ersten Mal weit über technische Überlegungen hinaus, wirtschaftliche, regulatorische und soziale Komponenten finden ebenfalls Berücksichtigung.
Reallabor als Blaupause: Praktisches Vorbild für nachhaltige Energielösungen
„Unser Plan ist es, in dem Reallabor an der Charité einen Prototyp zu schaffen, der zeigt, wie ein kaltes Nahwärmesystem schnell, standardisiert und möglichst minimalinvasiv implementiert werden kann – im laufenden Betrieb. Und wenn das in einem so komplexen Gefüge wie einer großen Klinik funktioniert, dann lässt sich das auch auf Büro- und Verwaltungsgebäude, Pflegeheime und Schulen übertragen“, sagt Prof. Dr. Andrea Pelzeter.
Indem Unternehmen, Initiativen oder ganze Stadtteile, die dem Beispiel des Reallabors folgen, die gleichen innovativen Ansätze zur Energieeinsparung und Emissionsminderung aufgreifen, leisten sie einen wertvollen Beitrag zum Klimaschutz in Berlin und seiner Metropolregion. Das könnte sogar bundesweit als Impulsgeber dienen, der den Weg für eine flächendeckende Einführung dieser nachhaltigen Technologie ebnet. „Das Projekt hilft, Vorbehalte gegen die Implementierung kalter Nahwärme zu überwinden und zeigt, wie lokal entwickelte Lösungen und neue Geschäftsmodelle rund um den Klimaschutz das Potenzial haben, weitreichende Wirkung zu entfalten“, sagt Prof. Dr. Andrea Pelzeter.