Neues Staatsbürgerschaftsrecht für längst gelebte Realität
Die Staatsangehörigkeit ist immer wieder zentrales Thema in der öffentlichen Debatte, Streitthema in Politik und Gesetzgebung. Ein Interview mit Prof. Dr. Tarik Tabbara über Sinn, Zweck und Nutzen.
Zur Person
Dr. Tarik Tabbara ist Professor für Öffentliches Recht, insbesondere deutsches und europäisches Sicherheitsrecht. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Verfassungs- und Staatsangehörigkeitsrecht, Recht und Rassismus sowie im Polizeirecht. Prof. Dr. Tarik Tabbara wird regelmäßig als Sachverständiger bei Öffentlichen Anhörungen in Ausschüsse auf Landes- und Bundesebene gehört. Seit 2022 ist er Mitglied im Rat für Migration und hat mitgewirkt am Dossier „Staatsangehörigkeit reloaded – Kritische Perspektiven auf Staatsangehörigkeit in der postmigrantischen Gesellschaft“, das im Februar 2023 herausgegeben wurde vom Netzwerk neue deutsche organisationen – das postmigrantische netzwerk e. V. https://neuedeutsche.org/fileadmin/user_upload/PDFs/ndo_Dossier_Staatsangehoerigkeit_2023.pdf
Prof. Tabbara, wozu ist das Konzept der Staatsangehörigkeit eigentlich noch gut? Hat sich das nicht längst überholt?
Einerseits hat Staatsangehörigkeit ein Stück an Bedeutung verloren. Viele Rechte, beispielsweise im Sozialrecht, die früher an die Staatsangehörigkeit gekoppelt waren, sind es heute nicht mehr. In anderen Fragen, wie insbesondere dem Wahlrecht oder ganz existenziell, der Möglichkeit in ein sicheres Land einreisen zu können, kommt es immer noch wesentlich auf die Staatsangehörigkeit an. Das Konzept Staatsangehörigkeit ist zwar theoretisch unter Druck. In der Praxis der Staatenwelt aber noch lange nicht überholt, auch wenn sich insbesondere im Rahmen der EU am Horizont zumindest Schemen möglicher Fortentwicklungen abzeichnen.
Das Konzept Staatsangehörigkeit ist zwar theoretisch unter Druck. In der Praxis der Staatenwelt aber noch lange nicht überholt.
Weshalb erhitzen sich an dem Thema die Gemüter so? Was haben zum Beispiel deutsche Staatsbürger*innen zu „verlieren“, wenn mehr Menschen den deutschen Pass erhielten?
Debatten um die Staatsangehörigkeit sind ja meist Debatten um Einbürgerung. Da wird neben den konkreten gesetzlichen Vorschriften mehr oder weniger im Hintergrund auch immer verhandelt, wer wir sind beziehungsweise vielleicht noch mehr, wie wir uns selbst gerne sehen. Und da taucht häufig ein Bild eines homogeneren Deutschlands auf, als es der Realität entspricht und so historisch auch nie entsprochen hat. Manche halten aber gleichwohl an diesem Bild fest und ähnlich wie bei den Debatten um den Genderstern, den manche nutzen, lösen entsprechende Änderungen im Staatsangehörigkeitsrecht starke Vorbehalte und Ängste aus. Das führt mitunter zu emotional übersteuerten Diskussionen. Denn natürlich verliert Deutschland nichts, wenn weitere Staatsangehörige dazukommen. Zumal die rechtsstaatliche Durchwirkung des Aufenthaltsrechts längst dazu geführt hat, dass das Staatsangehörigkeitsrecht für die Bleibeperspektive von Migranten und Migrantinnen in Deutschland nur noch eine eher untergeordnete Bedeutung hat.
Was unterscheidet die Staatsangehörigkeit von der Staatsbürgerschaft? Weshalb ist der Unterschied wichtig?
Rechtlich ist die Staatsangehörigkeit die Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft, die im Wesentlichen das Innehaben von politischen Mitwirkungsrechten, also insbesondere des Wahlrechts bedeutet. Etwas vereinfacht: Minderjährige sind, solange sie noch nicht wählen können, Staatsangehörige aber noch nicht Staatsbürger oder Staatsbürgerinnen. Daneben gibt es vor allem im anglo-amerikanischen Raum eine wissenschaftliche Debatte zum Begriff citizenship, also Bürgerschaft, der relativ losgelöst von Staatsangehörigkeit die Frage aktiver politischer Beteiligung diskutiert. Das hat aber mit der deutschen Debatte um Staatsangehörigkeit im Grunde nichts zu tun.
In letzter Zeit ist die Staatsangehörigkeit in der öffentlichen Debatte immer wieder zentrales Thema, so bei der Diskussion um die Mehrstaatigkeit, die schnellere Einbürgerung oder auch der möglichen Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit. Ist es einfach an der Zeit oder hat sich etwas am Konzept geändert?
Es hat sich etwas an der Lebensrealität in Deutschland geändert und die Realitätsverweigerung funktioniert einfach nicht mehr. Viel zu lange hat Deutschland auch in offiziellen Rechtstexten an dem falschen Selbstbild festgehalten, kein Einwanderungsland zu sein. Auch wenn nach wie vor über Migration politisch höchst kontrovers debattiert wird, zeigt sich dennoch auf fast allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens, dass die neuen Deutschen längst da sind. Es geht nun darum, die rechtlichen Regeln für diese „neue“ Realität zu bestimmen.
Viel zu lange hat Deutschland auch in offiziellen Rechtstexten an dem falschen Selbstbild festgehalten, kein Einwanderungsland zu sein.
Weshalb sollten Deutsche mehr als eine Staatsbürgerschaft besitzen dürfen?
Das ist ja eine bewusst etwas provokant formulierte Frage, in der die Logik der Gastarbeiterpolitik noch etwas durchschimmert. Menschen, die hier leben und arbeiten, werden unter der Brille der Nützlichkeit gesehen und nicht als Menschen wie Du und ich. Soweit die Hinnahme von Mehrstaatigkeit es Menschen ermöglicht, den Schritt zu einem Einbürgerungsantrag zu gehen, weil sie sich nicht von der oft emotional aufgeladenen Bindung an ihre bisherige Staatsangehörigkeit lösen müssen, ist das gut für uns alle, weil Menschen dadurch in Deutschland zu gleichberechtigten Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen werden. Und die damit das Land, das sie ohnehin schon mitgestalten – ökonomisch, sozial, kulturell – auch demokratisch gleichberechtigt mitgestalten können. Die Gesellschaft gewinnt damit ein Stück Demokratie zurück, wenn sich die Kluft zwischen Wohn- und Wahlbevölkerung wieder etwas schließt. Immerhin hat sich der Anteil der Menschen, die aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit in Deutschland nicht wählen dürfen, in den letzten drei Jahrzehnten mehr als verdoppelt, von etwa sieben auf über 14 Prozent.
Die Gesellschaft gewinnt damit ein Stück Demokratie zurück, wenn sich die Kluft zwischen Wohn- und Wahlbevölkerung wieder etwas schließt.
Gibt es nicht auch praktische Gründe dafür, eine Einbürgerung zu erlauben, ohne die bisherige Staatsangehörigkeit aufzugeben?
Ja, natürlich. Inzwischen haben zum Beispiel etwa ein Drittel der Studierenden im Studiengang gehobener Polizeivollzugsdienst an der HWR Berlin einen sogenannten Migrationshintergrund. Für die Verbeamtung ist aber in der Praxis nach wie vor die deutsche Staatsangehörigkeit oder die eines anderen Staates der Europäischen Union Voraussetzung. Ich habe zwar schon vor einigen Jahren in einem Aufsatz vertreten, dass man hier schon jetzt gesetzliche Ausnahmemöglichkeiten nutzen könnte, aber noch ist die Praxis eben so, dass Personen mit anderen Staatsangehörigkeiten wie aus der Türkei bei der Polizei nicht verbeamtet werden können. Die Polizei sucht aber händeringend qualifizierten Nachwuchs und es ist schon lange klar, dass interkulturelle Kompetenz ein wichtiges Qualifikationsmerkmal für die Einstellung bei der Polizei ist. Wenn die Einbürgerung, wie jetzt geplant, generell unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit ermöglicht wird, dürfte das den Kreis potenzieller Bewerber und Bewerberinnen für den Polizeidienst erheblich erweitern, die bislang an der fehlenden deutschen Staatsangehörigkeit gescheitert sind, weil sie – aus den unterschiedlichsten Gründen – ihre bisherige Staatsangehörigkeit nicht aufgeben wollten.
Die letzte Kontroverse entspann sich an dem Vorschlag aus unionsgeführten Innenministerien im Kampf um die sogenannte Clankriminalität den Mitgliedern von zum Teil vor Jahrzehnten eingewanderten Großfamilien die deutsche Staatsangehörigkeit zu entziehen. Ihre Bewertung dazu?
Schon seit einigen Jahren können wir, nicht nur in Deutschland, beobachten, dass das Staatsangehörigkeitsrecht als Instrument zur Gefahrenabwehr mobilisiert wird. Das Staatsangehörigkeitsrecht eignet sich aber kaum hierfür, nimmt aber dadurch insgesamt großen Schaden. Denn die Staatsangehörigkeit, so sagt es das Bundesverfassungsgericht, ist die Garantie gleichberechtigter Zugehörigkeit. Diese Garantie wird aber immer dann besonders beeinträchtigt, wenn nicht alle deutschen Staatsangehörigen als Staatsangehörige gleich sind. Und das wäre auch bei dem Vorschlag zur sogenannten Clankriminalität so. Denn der würde nur Personen mit mehrfacher Staatsangehörigkeit treffen, auch wenn deutsche Staatsangehörige ohne weitere Staatsangehörigkeit genau die gleichen Taten begangen hätten. Diese Diskriminierung ist aus meiner Sicht nicht nur verfassungsrechtlich unzulässig, sondern auch völkerrechtlich. Nach einem Europaratsabkommen von 1997, an das Deutschland völkerrechtlich gebunden ist, ist ein Staatsangehörigkeitsverlust nicht wegen allgemeiner Straftaten zulässig, ganz unabhängig von der Schwere, sondern nur nach Straftaten die wie Hochverrat und dergleichen „wesentlichen Interessen des Vertragsstaats in schwerwiegender Weise abträglich sind“.
Diese Diskriminierung ist aus meiner Sicht nicht nur verfassungsrechtlich unzulässig, sondern auch völkerrechtlich.
Sie und andere Forscher*innen stellen fest, dass die Gesetzgebung zur deutschen Staatsbürgerschaft eher als Aus-, denn als Einladung wahrgenommen wird. Wie ließe sich das ändern?
Um es etwas bildhaft zu sagen: Die Einbürgerung wird in Politik und bei den Behörden mitunter immer noch als ein wertvoller Schatz verstanden, der gut beschützt werden muss und nur dann, wenn sich der migrantische Märchenprinz erfolgreich durch das Dornengestrüpp der deutschen Integration geschlagen hat, winkt am Ende die Aussicht auf die Einbürgerungsurkunde. Dahinter steht meist ein kulturell verbrämtes Verständnis der Staatsangehörigkeit. Stattdessen aber bedarf es eines grundlegenden Umdenkens, das sich nicht auf eine Gesetzesänderung beschränkt. Vielmehr bedarf es eines Umdenkens auch auf politischer, gesellschaftlicher und administrativer Ebene. Eines Umdenkens hin zu einem demokratisch-republikanischen Staatsangehörigkeitsverständnis, das die Frage gleichberechtigter demokratischer Teilhabe aller hier dauerhaft lebenden Menschen in den Mittelpunkt rückt.
Prof. Tabbara, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Sylke Schumann, Pressesprecherin der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin)