22.06.2021 — Pressemitteilung 33/2021Pressemitteilung 33/2021 | 22.06.2021

Bundestag

Lehren aus der Aufarbeitung des Breitscheidplatz-Anschlags

Der Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016 wird aufgearbeitet. Prof. Sandra Schmidt und Prof. Christian Matzdorf tragen als Sachverständige im Untersuchungsausschuss zur Aufklärung bei.

Prof. Sandra Schmidt und Prof. Christian Matzdorf von der HWR Berlin tragen als Sachverständige im Untersuchungsausschuss des Bundestages zur Aufklärung des Terroranschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz 2016 bei. Foto: Privat

1 873 Seiten umfasst nach Auskunft des Bundestages der Abschlussbericht des 1. Untersuchungsausschusses zur Beurteilung der Spurenlage und des Behördenhandelns nach dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz vor vier Jahren.  Ausschussvorsitzender Klaus-Dieter Gröhler übergab den Bericht am Montag, 21. Juni 2021, an Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble.

Prof. Sandra Schmidt und Prof. Christian Matzdorf von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin) haben als Sachverständige bei der Aufarbeitung mitgewirkt. Die Wissenschaftlerin und der Wissenschaftler vom Fachbereich Polizei und Sicherheitsmanagement betrachteten Facetten der Spurenlage am Anschlagsort und präsentierten ihr Gutachten bei einer Anhörung im Bundestag am 25. März 2021.

Der Deutsche Bundestag setzte 2018 einen Untersuchungsausschuss ein, der den Anschlag und seine Hintergründe aufklären und sich ein Gesamtbild vom Handeln der zuständigen Behörden verschaffen sollte. Zur Erstellung des nun vorliegenden Abschlussberichts wurden nach eigenen Angaben Akten der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden des Bundes und aller 16 Länder herangezogen, ausgewertet und miteinander abgeglichen sowie rund 180 Sachverständige, Zeuginnen und Zeugen gehört. Aufbauend auf den Untersuchungsergebnissen sollte der Ausschuss Empfehlungen für die Arbeit von Behörden sowie für die Betreuung und Unterstützung von Hinterbliebenen und Opfern solcher Anschläge entwickeln.

Prof. Christian Matzdorf hält an der HWR Berlin eine Professur für Kriminalistik mit dem Schwerpunkt Kriminaltechnik. Bei der Betrachtung der umfangreichen Datenmenge zu den aufgefundenen und gesicherten Spuren am und im LKW-Fahrerhaus stellte er fest, dass die Spurenlage, auf die die Ermittler*innen der Kriminalpolizei trafen, nicht das Spurenbild widergespiegelten, wie es sich kurz nach dem Anschlag gezeigt hätte. Dies könne bedingt sein durch den Einsatz der Rettungskräfte und der polizeilichen Erstinterventionskräfte. Es sei unvermeidbar, dass gegebenenfalls vorhandene Spuren verändert oder unwiederbringlich vernichtet werden, sodass diese keiner kriminaltechnischen Auswertung mehr zugeführt und somit auch nicht bei der späteren Rekonstruktion möglicher Tathergänge berücksichtigt werden könnten. So entstünden Trugspuren, die die weiteren Ermittlungen beeinflussen. Zudem verhinderten manche Oberflächenbeschichtungen in Fahrzeugen, dass DNA oder Fingerabdrücke sich abbilden. Trotz der schwierig zu beurteilenden Einzelaspekte gibt es laut Prof. Christian Matzdorf „keinerlei Hinweise darauf, dass die Ermittlungen einseitig oder falsch durchgeführt worden sind oder dass es dabei fachliche Mängel gegeben hat“.

Prof. Sandra Schmidt, Professorin für Einsatzlehre und Führungslehre an der HWR Berlin, geht ebenfalls davon aus, dass insbesondere die Maßnahmen der Erstintervention am Ereignisort, deren Schwerpunktsetzung zuallererst auf der Gefahrenabwehr und Erstversorgung verletzter Personen liegt, zwangsläufig Veränderungen am Tatort und damit des Spurenbildes herbeiführen, die nicht umfassend dokumentiert werden können. „Es ist unausweichlich, dass ein solcher Tatort verändert wird“, sagt Schmidt. Beide Sachverständige sahen hierin einen Erklärungsansatz für scheinbar nicht plausible Spurenlagen und Scheinkausalitäten, die sich aus der Interpretation einer derart entstandenen Spurenlage ergeben und die weiteren Ermittlungen beeinflussen.

Der Untersuchungsausschuss kommt dem Online-Dienst des Bundestages zufolge in seiner abschließenden Beurteilung zum Schluss, dass sowohl individuelle Fehleinschätzungen und Versäumnisse wie auch strukturelle Probleme in den zuständigen Behörden dafür verantwortlich waren, dass der Anschlag nicht verhindert werden konnte. Dabei habe keine der individuellen Fehleinschätzungen und Versäumnisse für sich genommen besonders schwer gewogen, doch im Zusammenwirken dazu geführt, dass der Täter nicht aufgehalten und der Terroranschlag nicht verhindert wurde. 

Prof. Sandra Schmidt erklärt, dass nicht zuletzt das Attentat von Breitscheidplatz bewirkt habe, dass die Polizeidienstvorschriften angepasst wurden. Dem sei ein langer Abstimmungsprozess zwischen den Polizeien der Länder und des Bundes vorangegangen. Prof. Matzdorf berichtet von organisatorischen Veränderungen in der Landespolizei Berlin, insbesondere in der Struktur und Arbeitsweise des Landeskriminalamtes Berlin bei derartigen Sachlagen. Auch der Ausschuss stellt in seiner Gesamtbeurteilung fest, dass in allen Bereichen inzwischen erhebliche Verbesserungen vorgenommen wurden, um die aufgedeckten strukturellen Probleme zu beheben. Der Online-Dienst des Bundestages berichtet weiter, dass die Ressourcen der Sicherheitsbehörden zur Bekämpfung islamistischen Terrors ausgebaut worden seien. Staatsschutzstaatsanwaltschaften könnten heute leichter alle Verfahren gegen Gefährder*innen konzentriert aus einer Hand führen.

Die HWR Berlin und die Senatsverwaltung für Inneres und Sport des Landes Berlin haben eine interdisziplinäre Fachtagungsreihe zu Sicherheitsthemen im Zusammenhang mit Terrorismus ins Leben gerufen. Jedes Jahr richten sie aus Anlass des Terroranschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 ein internationales Fachsymposium aus. Expertinnen und Experten von Sicherheitsbehörden, aus Politik und Wissenschaft aus ganz Deutschland und aus dem Ausland tauschen Erfahrungen, Best Practice und neue Erkenntnisse zu Maßnahmen aus, um terroristische Gefahren frühzeitiger zu erkennen, Risiken zu reduzieren und die Auswirkungen von Terroranschlägen zu minimieren. Die Ergebnisse des Symposiums werden in einem Tagungsband im Verlag Boorberg veröffentlicht.

Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin)
Die Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin ist mit über 12 000 Studierenden eine der großen Hochschulen für angewandte Wissenschaften – mit ausgeprägtem Praxisbezug, intensiver und vielfältiger Forschung, hohen Qualitätsstandards sowie einer starken internationalen Ausrichtung. Das Studiengangsportfolio umfasst Wirtschafts-, Verwaltungs-, Rechts- und Sicherheitsmanagement sowie Ingenieurwissenschaften in über 60 Studiengängen auf Bachelor-, Master- und MBA-Ebene. Die HWR Berlin unterhält 195 aktive Partnerschaften mit Universitäten auf allen Kontinenten und ist Mitglied im Hochschulverbund „UAS7 – Alliance for Excellence“. Als eine von Deutschlands führenden Hochschulen bei der internationalen Ausrichtung von BWL-Bachelorstudiengängen und im Dualen Studium belegt die HWR Berlin Spitzenplätze in deutschlandweiten Rankings und nimmt auch im Masterbereich vordere Plätze ein. Die HWR Berlin ist einer der bedeutendsten und erfolgreichen Hochschulanbieter im akademischen Weiterbildungsbereich und Gründungshochschule. Die HWR Berlin unterstützt die Initiative der Hochschulrektorenkonferenz „Weltoffene Hochschulen – Gegen Fremdenfeindlichkeit“.

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