19.05.2021 — Pressemitteilung 26/2021Pressemitteilung 26/2021 | 19.05.2021

Rassismus

Grundgesetz als Sensor und Schalter gegen Diskriminierung

Formulierungen ändern nicht die Wirklichkeit. Trotzdem plädiert Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Tarik Tabbara für die Streichung des Begriffs »Rasse« aus dem deutschen Grundgesetz. Ein Interview.

Foto: Maurice Weiß / Ostkreuz
  • Die Verfassung gibt Orientierung, deshalb müssen Formulierungen zur „Rasse“ im deutschen Grundgesetz ersetzt werden
  • Damit das Diskriminierungsverbot wirkt, bedarf es weiterer gesellschaftlicher Durcharbeitung und ergänzende Gesetzgebung
  • Ein Schutz- und Gewährleistungsauftrag gegen Diskriminierung und für Gleichbehandlung soll in Verfassung aufgenommen werden

Zur Person

Dr. Tarik Tabbara, LL.M. (McGill) ist Professor für Öffentliches Recht, insbesondere deutsches und europäisches Sicherheitsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin). Regelmäßig wird er als Sachverständiger in Ausschüssen des Deutschen Bundestages und in Landtagen gehört.
 

Wie kam der Begriff „Rasse“ überhaupt in die deutsche Verfassung?

Die historischen Materialien zur Erarbeitung des Grundgesetzes sind da erstaunlich wenig ergiebig. Über „Rasse“ als Kategorie schweigen sie sich fast gänzlich aus. Eine kritische Debatte über Rassismus sucht man dort erst recht vergeblich. In letzter Zeit ist auch verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass im Parlamentarischen Rat, der den Entwurf des Grundgesetzes ausgearbeitet hat, teilweise geradezu verstörende Äußerungen rassistischer Klischees zu finden sind, aus denen doch noch recht unverhohlen ein biologistisch-hierarchisierendes Verständnis von „Rasse“ spricht.
 

In Art. 3 Absatz 3 des Grundgesetzes ist doch aber das Verbot der „Rassen“-Diskriminierung festgeschrieben.

Ein konsequenter und ausdrücklicher Antirassismus findet sich in den Grundgesetz-Materialien nicht. Der Blick in die Protokolle greift aber gerade bei Verfassungsbestimmungen ohnehin zu kurz. Betrachtet man den größeren verfassungshistorischen Kontext, war die Aufnahme des Verbots der „Rassen“-Diskriminierung natürlich eine Reaktion auf den Zivilisationsbruch der Nazizeit, die mit ihrer mörderischen Rassenideologie und der Verfolgung von Jüdinnen und Juden, Sinti.zze und Rom.nja. Dass das Verbot der „Rassen“-Diskriminierung in Art. 3 Absatz 3 des Grundgesetzes aufgenommen wurde, ist sicher auch Ausdruck des „Nie wieder!“ gegenüber diesem Zivilisationsbruch, auch wenn diese Antwort weniger ausgesprochen ausfiel, als man das aus heutiger Sicht erwarten würde. Es war aber nicht nur antifaschistisches Bekenntnis nach innen, sondern auch die Weltgemeinschaft war hier wohl Adressat. Der Entwurf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, der ein Verbot der „Rassen“-Diskriminierung enthielt, lag dem Parlamentarischen Rat bei seinen Beratungen vor.

Was ist aus juristischer Sicht damit eigentlich gemeint? Die Eigenschaft einer Gruppe von Menschen oder vielmehr deren Rolle und Stellung in der Gesellschaft?

Was genau damit juristisch gemeint ist, ist erstaunlich unklar. Der Begriff „Rasse“ und erst recht das Verbot jemanden „wegen seiner Rasse zu benachteiligen oder zu bevorzugen“, wie es im Grundgesetz heißt, wird in der Rechtsprechung bisher kaum angewandt. Der Begriff wird, so der Eindruck, eher vermieden. Und wenn er doch mal auftaucht, dann ohne vertiefte Erläuterung. Der Begriff „Rasse“ wird dann zum Beispiel ohne jede kritische Reflektion schlicht mit Hautfarbe gleichgesetzt. Das Bundesverfassungsgericht hat erst im letzten Jahr zum ersten Mal überhaupt zu dem Diskriminierungsverbot „wegen seiner Rasse“ Stellung genommen und das auch nur in der Entscheidung einer Kammer, die nur mit drei Richter*innen besetzt ist.

Wo genau setzt hier Ihre Kritik an?

Die Kammer hat sich – ganz im Gegensatz zur sonstigen Rechtsprechung – nicht damit aufgehalten, „Rasse“ als Eigenschaft oder Merkmal von Menschen zu subsumieren, sondern die Vorschrift ganz konsequent als Verbot rassistischer Diskriminierung ausgelegt. Diese Lesart ist aber nicht juristisches Allgemeingut. Zwar hat sich hier in den letzten Jahren einiges getan und es finden sich mehr Veröffentlichungen, die die soziale Konstruiertheit von „Rasse“ benennen.

Ein gänzlich unreflektierter Umgang mit dem Diskriminierungsverbot ist aber immer noch verbreitet. So greift ein Standardlehrbuch des Polizeirechts in seiner 2021 erschienen Auflage zwar die Problematik des „racial profiling“ auf, beschreibt diese dann aber ohne jede kritische Distanzierung, nicht mal durch Anführungszeichen, als das Verbot polizeilicher Kontrolle nach der „Rassenzugehörigkeit“.

Welchen Nutzen würden Menschen davon haben, wenn die Begriffe in der Verfassung ersetzt würden? Artikel 1 des Grundgesetzes zur Unantastbarkeit der Menschenwürde stellt vor dem Gesetz doch alle Menschen gleich.

Es ist eben eine leidvolle Erfahrung, dass das Versprechen der gleichen Freiheit in der Realität nicht für alle wirksam ist. Gerade die Verbrechen der Nazi-Zeit aber auch die Ausbeutungsverhältnisse von Kolonialismus und Sklaverei haben deutlich vor Augen geführt, dass die abstrakte Garantie von Gleichheit häufig nicht ausreichend Schutz bietet, sondern dass bestimmte Formen der Ausgrenzung und Diskriminierung ausdrücklich benannt und geächtet werden müssen, um auf dem Weg realer Gleichberechtigung voranzukommen.

In dieser Tradition steht auch das derzeit diskutierte Ersetzen der „Rasse“-Formulierung im Grundgesetz durch das Verbot „rassistisch benachteiligt oder bevorzugt zu werden“ bzw. durch vergleichbare Formulierungen. Dabei geht es nicht um eine Anpassung des Verfassungstextes an den politischen Zeitgeist.

Sondern?

Problematisch ist nicht nur der Rassebegriff, der – zumindest sprachlich, aber nicht nur – die Vorstellung von der Existenz unterschiedlicher menschlicher „Rassen“ fortschreibt; noch problematischer für die Rechtspraxis ist, dass das Diskriminierungsverbot „wegen seiner Rasse“ so etwas wie eine verfehlte verfassungsrechtliche Grammatik formuliert. Diese Grammatik legt nämlich nahe, dass der Grund der Diskriminierung in der „Rasse“ der Person zu suchen ist, die anders behandelt wurde als andere. Damit wird aber die falsche Perspektive für die Rechtspraxis vorgegeben.

Liegt hierin ein wesentlicher Grund dafür, dass dieses Diskriminierungsverbot in der Rechtspraxis in Deutschland bisher so gut wie keine Rolle gespielt hat?

Mit der Umstellung auf das Verbot rassistischer Benachteiligungen würde die Grammatik der „Rasse“, die letztlich immer noch im Frame des Rassismus bleibt, überwunden und der Blick der Rechtspraxis auf das eigentliche Problem gelenkt: den Rassismus. An der Benennung und juristischen Aufarbeitung des Rassismus käme die Praxis dann jedenfalls sehr viel schwerer vorbei als heute. Und: Das Grundgesetz wirkt nicht nur als Rechtsinstrument im engeren Sinne, sondern gerade bei einem gesellschaftlich so sensiblen und kontroversen Thema spielt die Verfassung als zentraler Bezugs- und Orientierungspunkt öffentlicher Debatten für die Ausprägung der Verfassungswirklichkeit eine ganz bedeutende Rolle.

Weshalb brauchte es das 2006 in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, auch Antidiskriminierungsgesetz genannt?

Der äußere Anlass für die Verabschiedung des AGG waren Anti-Diskriminierungs-Richtlinien der EU, die in deutsches Recht umgesetzt werden mussten. Diese Richtlinien waren höchst umstritten, wurden aber, nachdem der Rechtspopulist Jörg Haider in Österreich an der der Bundesregierung beteiligt wurde, dann relativ schnell verabschiedet. Damit setzte die EU auch ein deutliches Zeichen, dass Gleichbehandlung und Antirassismus zu ihren Grundwerten zählen.

Notwendig war in Deutschland eine neue gesetzliche Grundlage, weil es hier praktisch kein gesetzliches Diskriminierungsverbot im Arbeits- und Zivilrecht gab. Die Diskriminierungsverbote des Grundgesetzes gelten zwischen Privaten ja nicht, jedenfalls nicht unmittelbar.

Könnten Sie Beispiele nennen, bei denen das gesetzliche Diskriminierungsverbot greift?

Zweck des Gesetzes ist es, Diskriminierung im Alltag wie bei der Wohnungs- oder Jobsuche und beim Besuch von Clubs zu bekämpfen. Bemerkenswert ist aus heutiger Sicht, dass die Einführung des AGG ebenso wie die Diskussion um die Ersetzung des Rassebegriffs im Grundgesetz zu einer erhitzten Diskussion mit ähnlichen Abwehrreflexen geführt hatte.

So wurde einerseits behauptet, dass ausdrückliche Diskriminierungsverbote im Zivil- und Arbeitsrecht überflüssig wären, weil schon alles über allgemeine Generalklauseln der Sittenwidrigkeit etc. gelöst werden könne und andererseits, eigentlich im Widerspruch zur ersten Aussage, wurde vor einer Klageflut gewarnt. Wenig überraschend ist es aber weder zu einer Klageflut gekommen, noch hat sich das AGG als überflüssig erwiesen. Was sich zeigt ist aber erheblicher Reformbedarf. Denn in puncto Beweislast und Verbandsklage ist der Gesetzgeber nur sehr zaghafte Schritte gegangen. 

Mit der Änderung der Formulierungen im Grundgesetz hört Diskriminierung „wegen seiner Rasse“, nicht auf. Was muss darüber hinaus passieren?

Eine Formulierung in der Verfassung ändert für sich genommen natürlich nicht die Wirklichkeit. Das gilt erst, wenn es um so tiefsitzende Vorurteilsstrukturen wie beim alltäglichen Rassismus geht. Gesellschaftliche Debatten und Politik beziehen sich aber immer wieder auf die Verfassung. Die Verfassung gibt hier Orientierung. Ein ausdrückliches Bekenntnis in der Verfassung zum Verbot jeglicher rassistischer Diskriminierung stellt im gesellschaftlichen und politischen Diskurs eine Legitimitätsressource für das Streben nach tatsächlicher Gleichbehandlung dar. Um das Diskriminierungsverbot wirksam zu machen, bedarf es natürlich weiterer gesellschaftlicher Durcharbeitung, insbesondere durch emanzipative Bewegungen aber auch ergänzende Gesetzgebung.

Sie fordern, dass der Schutz- und Gewährleistungsauftrag des Staates festgeschrieben wird. Das bedeutet?

Will man den Alltagsrassismus im Bildungsbereich, auf dem Arbeitsmarkt oder die mangelnde Vielfältigkeit in der Verwaltung insbesondere bei Führungs- und Spitzenpositionen angehen, um nur ein paar Themenfelder zu nennen, bedarf es struktureller Öffnungen und Förderungen. Um dies zu ermöglichen, wird als Ergänzung zur Streichung des „Rasse“-Begriffs im Grundgesetz durch das Verbot rassistischer Diskriminierung die Aufnahme eines Schutz- und Gewährleistungsauftrages diskutiert, der staatlichen Schutz vor Diskriminierung bieten und den Staat zur Gewährleistung tatsächlicher Gleichbehandlung verpflichten soll.

Ich halte einen solchen Schutz- und Gewährleistungsauftrag im Grundgesetz für mindestens so wichtig, wenn nicht noch wichtiger als die Umstellung von „Rasse“ auf rassistisch. Hiermit würde der Gesetzgeber dazu ermächtigt, gegen tatsächliche Ungleichbehandlungen vorzugehen oder strukturelle Vorkehrungen zum Schutz vor Diskriminierung vorzusehen. So könnte zum Beispiel über „Diversity Beauftragte“ nachgedacht werden, die ähnlich wie jetzt Frauen- oder Gleichstellungsbeauftragte darauf achten, dass Bewerbungsverfahren diskriminierungsfrei ablaufen.

Was spricht für die Streichung des Rassebegriffs und dagegen, „nur“ kritisch damit umzugehen?

Ein kritischer Umgang mit „Rasse“ als dem Kernbegriff jeder Form von Rassismus wird durch die Umstellung des Diskriminierungsverbots „wegen seiner Rasse“ durch das Verbot rassistischer Diskriminierung nach meiner Überzeugung nicht schwieriger, sondern im Gegenteil, es wird ganz ausdrücklich auf die Tagesordnung der Verfassung und damit der gesamten Rechtsordnung gesetzt. Damit muss sich die Rechtsordnung mit rassistischen Praktiken und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen auseinandersetzen. Also mit Praktiken, die darauf beruhen, anderen eine unterlegene gesellschaftliche Position in Form einer vermeintlichen „Rasse“ zuzuschreiben, die an äußerliche, phänotypische Merkmale anknüpft, zum Teil kulturalistisch überformt – Stichwort antimuslimischer Rassismus.

Gehen nicht wichtige Anknüpfungspunkte für die Thematisierung und damit auch die Bekämpfung von Diskriminierungen aufgrund von rassistischen Zuschreibungen verloren?

Das kann ich nicht erkennen. Der Begriff der „Rasse“ bzw. das rassistische Konzept der „Rasse“ verschwindet dadurch ja nicht. Aber anstatt den Begriff in der Verfassung weiter kommentarlos zu nutzten, um sich dann aufwendig davon distanzieren zu müssen, würde er rechtlich nun ausdrücklich in den Kontext des Rassismus gestellt. Auch eine emanzipativ-kritische Aneignung rassistischer Zuschreibungen, der racial turn, durch die Selbstbeschreibung von politischen Aktivist*innen etc. als Schwarze oder Kanaken wird durch die Ersetzung des „Rasse“-Frames durch die Ausrichtung auf Antirassismus nicht ausgeschlossen.

Im Gegenteil, ein in die Verfassung ausdrücklich eingeschriebener Antirassismus bietet Legitimationspotential für von Rassismus Betroffene, den Teil ihrer Identität, der von anderen mit rassistischer Bedeutung aufgeladen wird, zu politisieren und auf dieser Basis gleiche Rechte einzufordern. Bei dieser Auseinandersetzung um gleiche Anerkennung fordert, soweit ich das beobachte, niemand die Anerkennung als „Rasse“, sondern es geht immer um die kritische Aneignung von konkreten rassistischen Zuschreibungen wie eben Schwarze oder Kanaken etc.

Weshalb machen Sie sich für die Antidiskriminierungsperspektive im Recht stark?

Ich glaube, der Gesellschaft insgesamt und dem Recht insbesondere fehlen immer noch ein ausreichendes Sensorium, um strukturelle Diskriminierungen zu erkennen und die Instrumentarien, um auf die tatsächliche Gleichberechtigung wirksam hinzuwirken. Hier eine Veränderung zu bewirken, ist nicht nur wichtig für die von Diskriminierung Betroffenen. Es geht dabei immer auch um die Demokratie, die auf gleichberechtigter Teilhabe aller fußt. Veränderungsprozesse sind zäh.

Gerade öffnet sich ein politisches Window of opportunity und das nutze ich, um durch Teilnahme an der öffentlichen Debatte in den Medien, an Fachgesprächen und Sachverständigenanhörungen einen Beitrag zu leisten. Ein besonderes Anliegen ist mir dabei die Aufnahme eines verfassungsrechtlichen Schutz- und Gewährleistungsauftrag gegen Diskriminierung und für Gleichbehandlung. Hierfür habe ich auch Formulierungsvorschläge gemacht, die zum Teil politisch aufgegriffen wurden.

Prof. Tabbara, ich danke Ihnen für das Gespräch.


Das Interview führte Sylke Schumann, Pressesprecherin der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.

Prof. Dr. Tarik Tabbara im Profil

Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin)
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