7 Jahre nach dem Breitscheidplatz-Attentat
Ein Rückblick nach vorn: Was hat sich seit dem Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz im Jahr 2016 für Betroffene und Helfende solcher Ereignisse getan?
Dieser Frage widmete sich das 7. Fachsymposium unter dem Titel: „7 Jahre nach dem Breitscheidplatz-Attentat: Entwicklung und Perspektiven der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV)“.
Nach drei virtuellen Tagungen trafen sich Akteur*innen und Entscheidungsträger*innen aus Politik, Wissenschaft, Polizei und Zivilgesellschaft „endlich“ wieder in Präsenz an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, um – sechs Jahre nach dem Auftaktsymposium zum Thema „Fürsorgeaspekte von Opfern und Angehörigen“ die Entwicklungen auf diesem Gebiet zu resümieren und diskutieren. Die interdisziplinäre Veranstaltungsreihe wurde von der HWR Berlin und der Senatsverwaltung für Inneres und Sport ins Leben gerufen und wird seit 2017 jährlich zum fachlichen Austausch – aber auch zum Gedenken die Opfer und Geschädigten – ausgerichtet.
Prof. Dr. Sabrina Schönrock, Moderatorin und Mitinitiatorin der Tagung, begrüßte die Redner*innen sowie über 180 Teilnehmenden aus der gesamten Bundesrepublik und den Nachbarländern. Die hohe Nachfrage spiegelt die Bedeutung des Tagungsthemas, für das Berlin eine gewisse Vorreiterrolle eingenommen hat, wider.
Der Präsident der HWR Berlin Prof. Dr. Andreas Zaby ging in seiner Begrüßungsansprache auf das aktuelle Kriegsgeschehen in Nahost ein und stellte in diesem Zusammenhang die Bedeutung von professioneller psychosozialer Hilfe heraus. In Zeiten wie diesen sei es wichtig, die sozialen Folgen katastrophaler Ereignisse für die betroffenen Menschen durch kurz- und langfristige Unterstützungsmaßnahmen einzudämmen. Er appellierte an das Fachpublikum, in den Diskurs zu gehen und entsprechende Impulse zu setzen.
Daran anknüpfend lobte der Staatssekretär für Inneres des Landes Berlin Christian Hochgrebe das Fachsymposium als einen festen Ankerpunkt in der Fachwelt, das mittlerweile als Ort des Austausches für die vielfältigen Themen im Kontext von Terrorismus gelte. Er verwies in seinem Grußwort auf das 2021 verabschiedete und deutschlandweit einmalige PSNV-Gesetz, welches die die psychosoziale Versorgung in Notsituationen in Berlin, so zum Beispiel bei Katastrophen, Terroranschlägen oder Amoktaten, verbessert. Berlin habe hier wertvolle Pionierarbeit geleistet, betonte Hochgrebe.
Pfarrer Justus Münster, Beauftragter der EKBO (Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz) für Notfallseelsorge im Land Berlin, schilderte in seinem Vortrag die Abläufe der psychosozialen Unterstützung im Rahmen des Breitscheidplatz-Attentats. Er selbst war damals Leiter der PSNV-Einsatzkräfte vor Ort. Aufgrund einer guten Netzwerkarbeit im Vorfeld haben die Akteur*innen in der Akutphase gut zusammengearbeitet. Diese waren zwar gefordert, aber zu keiner Zeit überfordert. Allerdings war eine strukturierte mittel- und langfristige Versorgungsleistung für die Opfer und Angehörigen nicht gegeben, so Münster. Das Forschungsprojekt PSNV-NET, in dem er mitarbeitete, identifizierte Schwachstellen dieser Art und leitete Empfehlungen u.a. im Rahmen der Qualitätssicherung im Hinblick auf Ausrüstung und Ausbildung der Ersthelfenden ab. Die PSNV soll die Selbstwirksamkeit und die Wiedereingliederung der Betroffenen in den Alltag unterstützen. Dies impliziert auch eine nachhaltige Unterstützung der Opfer und Angehörigen, welche im verabschiedeten PSNV-Gesetz verankert wurde.
Prof. Dr. Vincenz Leuschner, Professor für Kriminologie und Soziologie an der HWR Berlin, widmete seine ersten Worte den Angehörigen, in deren Welt der Terroranschlag im Jahr 2016 ein tiefes Loch gerissen habe. Anwendungsorientierte Forschung sei ein wichtiges Element zur notwendigen Verbesserung und Fortentwicklung der Bewältigung solcher Großschadensereignisse, sagte Leuschner mit Nachdruck und dankte dem IFAF Berlin für die Förderung des Transferprojektes PSNV-NET Plus.
Terroranschläge sollen Angst und Schrecken in der Bevölkerung verursachen sowie Panik, Hilflosigkeit und Überforderung produzieren. Es gehe also um eine psychosoziale Destabilisierung, folgerte Leuschner in seinem Vortrag. Ein Baustein der PSNV ist daher die Stärkung der Resilienz sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene. Resilienz dürfe dabei nicht als zu erreichenden Zustand, sondern als ein andauernder Prozess der Anpassungsfähigkeit verstanden werden. Großschadenslagen sind dadurch gekennzeichnet, dass eine Mangellage der vorhandenen Ressourcen herrscht und eine Negativspirale des Ressourcenverlusts durch Stress einsetzen kann, was wiederum zu psychosozialen Belastungsstörungen führen kann (nach Hobfoll). Die psychosoziale Unterstützungsarbeit soll hier ansetzen und den Ressourcenverlust stoppen bzw. im besten Fall einen Ressourcengewinn herbeiführen. Je nach differenzierter Bedürfnislage der Betroffenen sollten soziale, persönliche oder ökonomische Ressourcen aktiviert werden.
In seiner Keynote sprach Prof. Dr. Stevan E. Hobfoll, über „The Impact of Terrorism on the Self and Society – Fostering Self and Collective Efficacy using COR Theory”. Der renommierte Psychologe stellte dem Fachpublikum seine weltweit anerkannte Theorie der Ressourcenerhaltung vor („Conservation of Resources Theory“ COR-Theorie), auf die sich auch das Forschungsprojekt PSNV-NET Plus stützt. Diese sieht Ressourcenveränderungen als Schlüssel zu Stress und geht davon aus, dass Ressourcenverluste unverhältnismäßig stärker ins Gewicht fallen als Ressourcengewinne, Gewinne aber zukünftige Verluste auffangen können. Er verdeutlicht diesen Grundsatz an einem eingängigen Beispiel: Ein Schüler, der während des Unterrichts von seinem Lehrer gelobt wird, hat dies innerhalb weniger Minuten wieder vergessen. Einem Schüler, der von seinem Lehrer hingegen als dumm bezeichnet wird, haftet diese negative Erinnerung vermutlich ein Leben lang an.
Die wichtigste Botschaft im Rahmen des Vortrages lautete, dass psychische Belastungen ausgelöst durch eine außeralltägliche Großschadenslage wie dem Breitscheidplatz-Attentat nur dann langanhaltende negative gesundheitliche Auswirkungen für die Betroffenen haben, wenn sie nicht angemessen, innerhalb des zur Verfügung stehenden oder gestellten Ressourcenpools bewältigt werden können. Die Stärkung der individuellen und kollektiven Wirksamkeit sei der Schlüssel für eine bestmögliche Vorbereitung sowie Bewältigung eines Krisenereignisses.
Im Anschluss an die Vorträge lud Schönrock die Tagungsteilnehmenden zur aktiven Pause mit Poster-Beiträgen zu verschiedenen sicherheitsrelevanten Forschungsfragestellungen ein. Ein thematischer Schwerpunkt lag dabei auf der Prävention psychischer Erkrankungen von belasteten Einsatzkräften.
In der zweiten Hälfte der Tagung fand die Podiumsdiskussion statt. Sie wurde von Prof. Dr. Olaf Neumann, Professor für methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit der Alice Salomon Hochschule Berlin, moderiert. Zur kreativen Einstimmung präsentierte Dr. Mika Moeller, wissenschaftliche Mitarbeiterin der HWR Berlin, einen kurzen Videoclip zur visionären Netzwerkarbeit von Einsatzkräften in Anlehnung an die Erzählform der Fabel. Sie handelte von verschiedenen Tieren in der Savanne, die gemeinsam einen Waldbrand bekämpften.
Die Podiumsrunde setzte sich aus Pfarrer Justus Münster, Katherina Neuffer, Leiterin der Geschäftsstelle des Beauftragten der Bundesregierung für die Anliegen von Betroffenen von terroristischen und extremistischen Anschlägen im Inland vom Bundesministerium der Justiz, Dr. André Baumann, Leiter Einsatzvorbereitung Rettungsdienst der Berliner Feuerwehr, PD Matthias Fatke, Leiter Stab 1 der Direktion 5 der Polizei Berlin sowie Kathrin Gräbener, Fachberaterin für PSNV und Journalistin, zusammen.
Die Expert*innen waren sich einig, dass eine unkomplizierte und weitestgehend unbürokratische Netzwerkarbeit eine wichtige Voraussetzung bildet, um Menschen in Notsituationen bestmöglich zu begleiten. Die Übergänge von der Akuthilfe zu mittel- und langfristigen Hilfe seien jedoch noch ausbaufähig.
Die Rolle der (Sozialen) Medien wurde ebenfalls kritisch diskutiert. Die Medien sollten nicht nur als „Störenfried“ am Schadensort gesehen werden, sondern auch als Chance im Rahmen einer bestmöglichen Krisenkommunikation. Hier bedürfe es allerdings einer besseren Abstimmung zwischen Medienvertreter*innen und Einsatzkräften. Eine rein täterzentrierte Medienberichterstattung sei zudem der falsche Ansatz. Betroffene sollten die Möglichkeit erhalten, gehört und einbezogen zu werden.
Zum Abschluss dankte Schönrock allen Mitwirkenden und Teilnehmenden und würdigte die Arbeit des Live-Künstlers Mike Klar, der die Ergebnisse der Veranstaltung in einem anschaulichen Tagungskunstwerk festhielt.
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