Überlebensstrategien von Künstlerinnen und Künstlern
Wie sehr hat sich das Leben von Kulturschaffenden 2020 verändert? Prof. Dr. Carsten Baumgarth von der HWR Berlin hat die Situation von Livekünstler/innen in der Coronakrise unter die Lupe genommen.
Herr Prof. Baumgarth, Sie haben Ende letzten Jahres eine empirische Studie über die Situation von Livekünstler/innen, im Speziellen: Profi-Zauberkünstler/innen, herausgegeben. Was war bzw. ist Ihre Motivation, speziell diese Gruppe sichtbar zu machen?
Im zweiten Lockdown im November 2020 gingen mir persönlich viele Dinge durch den Kopf, wie ich mit meinen Fähigkeiten und Kompetenzen etwas zur Linderung der Auswirkungen der Pandemie beitragen kann. Ein Bereich, der mir schon seit langem auch in der Forschung am Herzen lag, ist die Kunst- und Kulturszene. Besonders hart von der Pandemie betroffen sind die Livekünstler/innen wie Musiker, Schauspieler, Comedians etc., da fast alle Auftrittsmöglichkeiten seit März 2020 weggebrochen sind und diese Gruppe von Kulturschaffenden durch ihre überwiegende Soloselbständigkeit auch wirtschaftlich nicht so stark dasteht. Auch führt das dazu, dass diese einzelnen Sparten nur lose oder gar nicht organsiert sind und damit in der öffentlichen und politischen Diskussion kaum auftauchen.
Daher wollte ich für diese Künstler/innen Sichtbarkeit und Gehör schaffen. Ich habe mir dann speziell die Zauberkünstler/innen als Beispielbranche angeschaut. Dies liegt auch daran, dass ich seit über 30 Jahren in meiner Freizeit zaubere und seit 1986 Mitglied im Magischen Zirkel von Deutschland bin.
Im November habe ich dann den MZvD kontaktiert und mit einigen Profizauberkünstlern zoom-Interviews geführt. Darauf aufbauend startete Anfang Dezember eine Onlinebefragung an der mehr als 180 Profis teilgenommen haben. Das ist eine extrem hohe Rücklaufquote, da Schätzungen für Deutschland von circa 300 bis 500 Profizauberkünstler/innen ausgehen.
Was hat Ihre Studie offenbart? Wie steht es aktuell um die Livekünstlerinnen und -künstler?
Zunächst zeigte die Studie quantitativ die katastrophale Lage der Profi-Zauberkünstler/innen. Diese haben durch die Pandemie von März bis Dezember 2020 im Durchschnitt mehr als 80 Prozent ihrer Auftritte und damit ihres Einkommens verloren. Die befragten Künstler/innen gehen auch nicht davon aus, dass es 2021 besser wird, sondern rechnen mit einer Erholung erst 2022. Weiterhin zeigt sich, dass in den ersten beiden Pandemie-Phasen die Künstler/innen versuchten, durch Reduktions- und Durchhaltestrategien zu überleben. In der nun dritten Phase kommen stärker zusätzlich Exitstrategien und Innovations- bzw. Kreativstrategien zum Tragen, da das Potenzial der Reduktions- und Durchhaltestrategien mehr und mehr aufgebraucht ist.
Gern würden wir uns ein konkretes Bild machen: Wie sieht die persönliche Situation eines Künstlers / einer Künstlerin momentan aus?
Dazu zwei ganz konkrete Beispiele: Der Berliner Zauberkünstler Axel Hecklau, Deutscher Meister, Europameister und Vizeweltmeister, hatte bis 2020 in Berlin in der Kulturbrauerei eine regelmäßige Show. Die kann er durch die aktuelle Situation schon seit Monaten nicht mehr spielen. Gleichzeitig hatte er 2020 eine große Seminartournee in Deutschland geplant, um anderen Zauberkünstler/innen Kunststücke zu zeigen und zu lehren. Diese Seminartournee startete zwar Anfang 2020, musste aber dann mittendrin abgebrochen werden. Aber er hat nicht lange den Kopf in den Sand gesteckt, sondern im Sinne einer Innovations- und Kreativstrategie begonnen, ein kleines Filmstudio einzurichten und ein Konzept für interaktive Zauberei via Zoom-Show zu entwickeln. Seit Dezember bietet er das Format der Öffentlichkeit und auch Firmen an.
Ein zweites Beispiel ist der Illusionskünstler Julis Frack aus Tübingen. Auch er ist Deutscher Meister und sogar Weltmeister. Während er in der Vergangenheit unter anderem spektakulär den Mannschaftsbus vom FC Bayern München erscheinen ließ, brach das Geschäft 2020 vollständig ein, da er für seine Art der Zauberkunst große Bühnen benötigt. Aufgrund dieser Situation sowie dem glücklichen Zufall, dass er studierter Lehrer ist, setzte er eine Exitstrategie um. Er wanderte mit seiner Frau und seinen vier Kindern nach Indonesien aus, um dort einen Lehrerjob an einer internationalen Schule anzutreten.
Was würde aus Ihrer Sicht die Situation der Künstler/innen aktuell verbessern (über finanzielle Aspekte hinaus betrachtet)?
Na ja, am Ende ist es genau das Geld. Ohne Auftritte keine Zuschauer und ohne Zuschauer keine Einnahmen. So einfach ist das. Das heißt für die Zauberkünstler/innen, aber auch für andere Bereich der Livekunst, geht es um Auftrittsmöglichkeiten. Da diese in absehbarer Zeit nicht zu erwarten sind und speziell die Firmen auch in 2021 kaum größere Events und Messen organisieren werden (und das ist für die Künstler/innen die Haupteinnahmequelle), geht es um echte finanzielle Unterstützung durch den Staat, neue und kreative Ansätze für digitale Plattformen wie Zoom-Shows, Streaming und Influencer-Geschäft, aber auch um befristete und unbefristete Jobs außerhalb der Kunst- und Kulturszene.
Das akademische Jahr 2020/21 an der HWR Berlin steht unter dem Motto „Wir übernehmen Verantwortung“. Was bedeutet es für Sie persönlich, Verantwortung zu übernehmen?
Verantwortung ist ein großer Begriff. Für mich bedeutet Verantwortung in der aktuellen Situation, dass wir als Zivilgesellschaft aktiv und unterstützend tätig werden müssen. Der Staat versucht aus meiner Sicht alles, wenn auch manchmal mit Fehlern, was möglich ist. Aber das reicht nicht. Wir alle müssen helfen und zwar da, wo wir es können. Ja, wir haben alle unsere eigenen Probleme und Frustrationen, aber Meckern und Nichtstun sind für mich keine Optionen. Ich kann durch eine solche Studie Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit für dieses Feld generieren. Bei der Studie ging es nicht um „Drittmittel“, Reduktion des Lehrdeputats oder wissenschaftliche Reputation, sondern ich habe und werde meine Zeit und meine Expertise pro bono zur Verfügung stellen, um zu helfen. Wir haben auch schon einen ersten TV-Auftritt in der rbb Abendschau abgedreht, ein Artikel in der Zeitschrift brand eins ist gerade im Entstehen, im Februar werde ich dazu ein Webinar geben und ich setze Social Media, insbesondere LinkedIn ein, um auf die Situation aufmerksam zu machen.
Aus meiner Sicht ist das auch eine Art von Verantwortung und bürgerlichem Engagement, denn auch, wenn es die Kunst und Kultur nicht auf die aktuelle Liste der systemrelevanten Berufe des Berliner Senats geschafft hat, bin ich davon überzeugt, dass Kultur und Kunst essentiell für eine Gesellschaft sind. Ohne Kunst und Kultur wird das Leben auch nach der Pandemie ganz schön grau.
Vielen Dank für das Interview.
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