Lieferketten – Immunsystem von Wirtschaft und Handel
Supply Chain Manager*innen – Krisenmanager*innen von heute. Dmitry Ivanov, ein weltweit anerkannter Experte, zeigt Wege auf zu resilienten Lieferketten in Zeiten globaler Unsicherheit und Instabilität
Zur Person
Prof. Dr. Dr. habil. Dmitry Ivanov ist Professor für Supply Chain Management an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin) und Leiter des Masterstudiengangs „Global Supply Chain and Operations Management“. Er befasst sich seit über 20 Jahren mit globalen Lieferketten und hat mehr als 360 Publikationen verfasst, darunter das Buch „Introduction to Supply Chain Resilience“. Dmitry Ivanov ist einer der auf ihren Forschungsgebieten meist zitierten Wissenschaftler weltweit: 2024 belegt er im ScholarGPS-Ranking weltweit den 1. Platz im Bereich Supply Chain und Control in der Kategorie „Highly Ranked Scholar – Prior Five Years“. Auf der Stanford-Elsevier-Liste der Top 2 Prozent hält er ebenfalls Platz 1 (von 29.481 Autor*innen) auf dem Gebiet Operations Research und belegt Platz 102 über alle Disziplinen hinweg.
Prof. Ivanov, erst einmal herzlichen Glückwunsch zu Ihrem beeindruckenden Abschneiden in internationalen Rankings der Top-Wissenschaftler*innen Ihres Fachgebiets. Nun auch der 1. Platz im Ranking der forschungsstärksten Ökonomen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, das heute in der WirtschaftsWoche veröffentlicht wurde. Angesichts Ihrer Erfolge: Gibt es einen besonderen wissenschaftlichen Meilenstein, auf den Sie persönlich großen Wert legen, unabhängig von der Anerkennung durch Rankings?
Vielen Dank für die Glückwünsche, Frau Schumann. Auch wenn jedes Ranking-Ergebnis mit Vorsicht zu genießen ist, freue ich mich sehr über alle Kolleginnen und Kollegen, die Top-Rankingergebnisse erzielen. Das Ranking der WirtschaftsWoche ist insofern einzigartig, weil es nicht um eine rein statistische Auswertung von Zitierungen geht. Es werden ausschließlich objektive Kriterien wie etwa Forschungsproduktivität und Publikationsrigorosität zugrunde gelegt. Somit haben alle eine Chance – und zwar unabhängig von Zugehörigkeiten zu bestimmten geschlossenen Communities, Fakultäten, und Vereinen – , einen Platz im Ranking zu ergattern.
Meiner Meinung nach geht es in der Supply-Chain-Forschung primär um die methodische Rigorosität und Praxisorientierung – genau solche Forschungsarbeiten und Projekte, die diese beiden Eigenschaften vereinen, gehören zu meinen wichtigsten wissenschaftlichen Meilensteinen. Konkret sind das die richtungsweisenden Forschungsarbeiten über den Ripple Effekt in den Lieferketten, die Entwicklung der Viabilitästheorie von Liefernetzwerken und Entwicklung von Digitalen Zwillingen in einer engen Zusammenarbeit mit der Industrie. Die neu gewonnenen Drittmittelprojekte (Horizon Europe und DFG) erlauben es, diese Forschungsaktivitäten zu erweitern.
Welche spürbaren Veränderungen beobachten Sie durch die Forschung zu Lieferketten in der Praxis?
Mein Forschungskonzept basiert auf den drei i-Säulen: Internationalität, Interdisziplinarität und Industrieorientierung. Ein Beispiel hierzu ist unser neues EU-gefördertes Forschungsproject ACCURATE mit 15 internationalen Partnern, einer interdisziplinären Zusammensetzung (Supply Chain Management, Maschinenbau, Informatik) und drei Pilotprojekten in der Industrie. Meine zwei zentralen Forschungsschwerpunkte sind die Supply Chain Resilienz und die digitalen Lieferketten.
Das Thema der Resilienz in sowohl regionalen als auch globalen Lieferketten gewann an Bedeutung während der COVID-19 Pandemie. Ich habe jedoch schon viele Jahre vor der Pandemie an der Resilienz gearbeitet.
Viele Menschen haben in der Corona-Zeit zum ersten Mal so richtig gemerkt, wie wichtig funktionierende Lieferketten sind. Wenn die Produkte in den Regalen fehlen, dann merken die Menschen das – und es macht was mit den Menschen.
Auch für viele Unternehmen war die Pandemie ein Schock eines nie dagewesenen Ausmaßes. So gewann das Thema der Resilienz enorm an Bedeutung.
Welche Lehren wurden gezogen?
Viele Unternehmen haben die Krisenzeit schnell vergessen und sind zu den klassischen Kostensenkungsmethoden zurückgekehrt. Das kann eine gefährliche Entwicklung sein, da die nächste Krise vielleicht bereits um die Ecke ist.
Die Kosten für die Behebung von Störungen und den Wiederaufbau von Lieferketten können viel höher als die Kosten der Resilienz sein.
Bei anderen Unternehmen hat sich zumindest eine resiliente Denkweise etabliert. Tatsächlich wird es mit zunehmenden Unsicherheiten und Instabilitäten immer schwieriger, ein „Normalbetrieb“ von einem Störungsfall zu unterscheiden. Lieferketten werden dauerhaft Störungen ausgesetzt. Wenn sich die Supply Chain Manager*innen vor der Pandemie im Wesentlichen auf die Kosteneinsparungen unter der Prämisse immer zur Verfügung stehender Ressourcen fokussiert haben, sind sie mittlerweile zu Krisenmanager*innen geworden.
Resilienz und Digitalisierung von Lieferketten sind zentrale Themen Ihrer Arbeit. Worum geht es da konkret?
Wir erarbeiten Simulationsmodelle und Digitale Zwillinge für ein breites Spektrum von Resilienzmanagementproblemen, zum Beispiel für die Durchführung von sogenannten Stresstests. Bei einem Stresstest geht es darum, wie eine Lieferkette beziehungsweise bestimmte Unternehmen auf Störungsszenarien reagieren. Wie lange kann die Produktion beibehalten werden, wenn ein kritischer Lieferant ausfällt? Wie sollte man reagieren, wenn eine wichtige Logistikroute blockiert ist (etwa der blockierte Suezkanal durch einen Frachter)?
Wir versuchen durch unsere Modellierungen den Unternehmen aufzuzeigen, dass Resilienz nicht zwingend das Gegenteil von Effizienz ist.
Ein solches Konzept ist Lean Resilienz.
Ein weiterer wichtiger Forschungsschwerpunkt ist die Entscheidungsfindung unter der schwierigsten Form der Unsicherheit, der sogenannten Ungewissheit (unknown-unknown). Vorkehrungen zu treffen für das Unvorhersehbare – ist das überhaupt möglich? Unsere Antwort: Ja, aber mit neuartigen Ansätzen zur Resilienz, die weniger auf die Vorhersagen und den Aufbau von Redundanzen (etwa Überbeständen) und mehr auf den Aufbau flexibler und anpassungsfähiger Lieferketten basieren. Somit werden die Lieferketten für das tägliche Geschäft auf Anpassungsprinzipien aufgebaut (etwa mehrere Lieferanten und flexible Produktionssysteme) und sind gleichzeitig für die Krisenzeiten ausgerüstet - die Anpassungsfähigkeit ist entscheidend für die Resilienz.
Und dann noch der Digitale Zwilling: Die Kollaboration Mensch-Künstliche Intelligenz bezogen auf Lieferketten bedeutet eine faszinierende Möglichkeit, die Störungen rechtzeitig aufzudecken und die sinnvollsten Gegenmaßnahmen rechtzeitig einzuleiten.
So wie bei dem Menschen – je früher eine Krankheit erkannt wird und die richtige Behandlung beginnt, umso höher sind die Heilungschancen. Die Resilienz ist mehr oder weniger das Immunsystem der Lieferkette.
Optimierung, Simulation und KI – welche Methode hat sich besonders bewährt, um die Komplexität globaler Lieferketten zu analysieren und zu beherrschen?
Lieferketten sind hochdynamische Netzwerke. Ihre Strukturen und Prozesse ändern sich buchstäblich täglich, insbesondere unter den aktuellen Bedingungen globaler Unsicherheit und Instabilität. Die Simulation ist eine besonders geeignete Methode, um das dynamische Verhalten von System zu analysieren. Dabei gilt es, zwei Probleme zu bewältigen: Erstens – wenn ein System sich verändert, soll sich auch sein Modell verändern. Zweitens – das Modell soll das System möglichst akkurat, vollständig und präzise beschreiben.
Eine Kombination von Simulation und KI in Form digitaler Zwillinge hilft dabei. Simulationsmodelle können fast automatisch aus Daten und Wissen generiert werden.
So spiegeln die digitalen Zwillinge nicht nur unser Wissen und Entscheidungsregeln wider, sie lehren uns auch, wie die Lieferketten tatsächlich aussehen und welche Entscheidungen zu den besten Ergebnissen führen. Man geht bei digitalen Zwillingen wie etwa beim Lego-Zusammenbau vor – von vielen Einzelelementen zu einer Gesamtheit.
Beim Publizieren geht es Ihnen um wissenschaftliche Tiefe als auch um Praxisrelevanz. Wie finden Sie die Balance zwischen langwierigen akademischen Begutachtungsprozessen und der Notwendigkeit, Forschungsergebnisse schnell zu veröffentlichen?
In meiner Forschung konzentriere ich mich bewusst auf einige wenige Kernbereiche. Das ist wissenschaftlich sinnvoller, als sich mit allen möglichen Dingen zu beschäftigen.
Man wird in der Fachwelt schneller bekannt und anerkannt, wenn man ein Thema vertieft und Fachwissen aufbaut.
Ich veröffentliche sowohl in Journals mit erhöhten Anforderungen an die methodische Tiefe und publiziere gleichzeitig spannende Ergebnisse auch in anwendungsorientierten Zeitschriften. Bei Letzteren sind die Entwicklungen sehr dynamisch und der Text kann schnell erscheinen. Bei den sogenannten FT50 Journals kann es mitunter bis zu fünf Jahre dauern, bis eine Arbeit erscheint. Ich bevorzuge Journals mit einer relativ kurzen Begutachtungszeit aber hohen Begutachtungsstandards (also keine reinen Open Access Journals, in denen gegen Entgelt alles Mögliche publiziert werden kann).
So geht die Relevanz von Forschungsergebnissen nicht verloren.
Ich denke dabei an meinen bislang meist zitierten Artikel im Journal „Transportation Research Part E“ über die Vorhersage von Pandemiefolgen auf die globalen Lieferketten, der im März 2020 erschien.
In Ihren Veröffentlichungen kommen Begriffe vor wie Ripple Effekt und intelligente Digitale Zwillinge. Das klingt für Außenstehende ein bisschen wie Sci-Fi meets Chaos-Theorie. Können Sie bitte erklären, wie diese futuristisch klingenden Konzepte dabei helfen, reale Probleme im Hier und Jetzt zu lösen?
Nehmen wir den Beginn der Corona-Pandemie als Beispiel: Der Lockdown im Januar 2020 in China führte zu fehlenden Teilen und Materialien bei den Produzenten weltweit. Innerhalb weniger Wochen kam es zu massiven Produktionsausfällen in Deutschland und anderen Ländern. Kund*innen haben diese Störungsfortschreitung (was wir auch als Ripple Effekt bezeichnen) ebenfalls deutlich gespürt. Meine Arbeiten zu dem Ripple Effekt waren die ersten im Supply Chain Management, die sich wissenschaftlich mit dem Thema befassten. Mittlerweile sind bereits über 1.000 Forschungsartikel weltweit zu dem Ripple Effekt erschienen, was darauf hindeutet, dass ich ein neues Forschungsfeld mitbegründet habe.
Ebenfalls finden die neuen Arbeiten zu den intelligenten Digitalen Zwillingen einen immer größeren Zuspruch, wenn man die Anzahl an Zitationen und Einladungen zu Vorträgen auf internationale Tagungen als Kriterien nimmt. Kurzgefasst – ein intelligenter Digitaler Zwilling stellt nicht nur eine digitale Nachbildung eines physischen Systems dar – und zwar so wie ein Mensch dieses System sieht und versteht. Er beruht auf einer Mensch-KI-Kollaboration, verbessert sich selbst und bringt dem Menschen neues Wissen über das System bei. Im Falle einer neuen Pandemie oder globaler Krise anderer Art kann so ein intelligenter Digitaler Zwilling den Lieferketten helfen, die Gefahren rechtzeitig zu erkennen und Handlungsempfehlungen unterbreiten, damit es nicht oder nur zu geringfügigen Störungen kommt.
Bei den globalen Lieferketten geht es um viel mehr als Wirtschaft und Handel. Zu welchen Disziplinen schlagen Sie Brücken und weshalb?
Effizienz, Resilienz, Viabilität und Nachhaltigkeit von Lieferketten können sich nicht nur auf die Leistung einzelner Unternehmen auswirken, sondern auch auf die nationale und globale Wirtschaft. Bislang ist die Lieferkettenforschung auf makroökonomischer Ebene jedoch eher zersplittert und durch recht isolierte Ebenen von Unternehmen und Wirtschaft gekennzeichnet. Derzeit ist ein Trend hin zu einer gewissen Integration dieser beiden Ebenen zu beobachten. So werden beispielsweise Daten aus den Lieferketten für die Analyse der Ausbreitung von Schocks in nationalen und globalen Volkswirtschaften sowie für die Erreichung von Nachhaltigkeitszielen verwendet.
Branchenübergreifende Welleneffekte gewinnen angesichts globaler geopolitischer Unsicherheiten zunehmend an Bedeutung. Die Analyse der Widerstandsfähigkeit von Lieferketten erfolgt unter dem Aspekt der Lebensfähigkeit globaler Ökosysteme.
Ich bin sehr an Themen mit einem interdisziplinären Bezug interessiert. Das sind zum einen die volkswirtschaftliche Bedeutung der Lieferkettenresilienz (Stichwort: Viabilität; Kooperationen zu VWL), zum anderen die Rolle der KI in digitalen Lieferketten (Stichwort: intelligente Digitale Zwillinge; Kooperation zur Wirtschaftsinformatik und Computer Science), sowie Anpassungsmechanismen in Immunsystemen und biologischen Systemen als Beispiele für die Supply Chain Resilienz. An der HWR Berlin haben wir seit 2024 die hervorragende Möglichkeit, solche interdisziplinären Kooperationen in unserem neuen, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Kompetenzzentrum für Resilienz von globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten aufzubauen. Auch die geplanten Promotionszentren an der HWR Berlin tragen zu einer solchen Zusammenarbeiten bei.
Die globalen wirtschaftlichen und politischen Unsicherheiten belasten Lieferketten weltweit. Könnten Sie einen Einblick geben, wie digitale Technologien als Schlüssel für Resilienz dienen können, gerade im Kontext Deutschlands?
Das Supply Chain Management allgemein und sein Resilienz-Feld werden zunehmend datengetrieben. In der Praxis betrachtet man Lieferketten häufig nicht mehr als ein Netzwerk von Firmen, sondern aus einer Datenperspektive.
owohl die Industrie, als auch politische Entscheidungsträger*innen erkennen zunehmend die Notwendigkeit an, die Resilienz von Lieferketten zu überprüfen und Strategien zur Risikominderung innerhalb der EU-Lieferketten zu entwickeln.
Deutschland positioniert sich als eine der offensten Volkswirtschaften, zahlreiche Lieferketten werden miteinander verflochten. Diese Verflechtungen bedeuten aber auch, dass die deutsche Wirtschaft in hohem Maße von Lieferungen aus dem Ausland abhängig ist. Der Mangel an Halbleitern in der Automobilindustrie und krisengetriebenen Preisspitzen bei kritischen Metallen und Rohstoffen wie Lithium und Nickel sind nur einige besonders prominente Beispiele. Es gibt zwar verschiedene politische Optionen sowohl auf Unternehmens- als auch auf makroökonomischer Ebene, doch der Erfolg dieser Initiativen hängt häufig von der Verfügbarkeit robuster, genauer Daten ab.
Es gibt eine Reihe von Initiativen wie etwa das Lieferkettengesetz, das B2B E-Invoicing und digitale Produktpassports, die zu einer besseren Visibilität in Lieferketten beitragen können.
Im Ergebnis ist die Resilienzformel recht einfach: Strukturelle Vielfalt + Visibilität + Anpassungsfähigkeit + Robustheit.
Die digitalen Technologien können entscheidend helfen, bestehende Daten zu integrieren und neues Wissen über Lieferketten zu generieren.
Wie können Ihre Konzepte – von der Supply Chain Viability bis hin zu intelligenten Digitalen Zwillingen – die globale Wirtschaft nachhaltig prägen?
Die Lieferketten sind längst kein reines Managementthema mehr. Ihre volkwirtschaftliche – und sogar politische – Bedeutung wächst. Hierzu kommt der allgemeine Trend zur Digitalisierung in allen Bereichen der Gesellschaft. Somit sehe ich den Einfluss künftiger Forschung auf den Gebieten Resilienz und digitale Lieferketten sowohl auf Firmen, als auch auf nationale und globale Wirtschaftssysteme. Genau darum geht es bei der Viabilität: Wenn eine Lieferkette eines Unternehmens an Resilienz verliert, so ist das für das betroffene Unternehmen bedauerlich – aus gesellschaftlicher Sicht aber noch vertretbar, wenn es andere Anbieter auf dem Markt gibt.
Sollten jedoch alle Lieferketten für eine kritische Komponente (etwa Halbleiter) oder in einer Branche (etwa Gesundheitswesen) zusammenbrechen, dann stellt sich sehr schnell die Frage der Überlebensfähigkeit im gesellschaftlichen Ausmaß.
Digitale Zwillinge alleine – auch ausgestattet mit KI – werden diese Probleme nicht lösen können, tragen aber wesentlich zur höheren Resilienz und Viabilität bei.
Prof. Ivanov, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Interview wurde aufgezeichnet von Sylke Schumann, Pressesprecherin der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.