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Teilhabe und Demokratie in Brasilien und Deutschland

Seit dem 1. Oktober 2024 ist Marcella Nery aus Brasilien als Bundeskanzler-Stipendiatin an der HWR Berlin. Sie forscht zu den Themen Teilhabe und Demokratie in Brasilien und Deutschland.

13.12.2024

Bundeskanzler-Stipendiatin Marcella Nery
Bundeskanzler-Stipendiatin Marcella Nery. Foto: privat

Marcella Nery wird für ein Jahr als Gastwissenschaftlerin an der HWR Berlin arbeiten. Betreut wird sie von Prof. Dr. Carolin Hagelskamp, Professorin für Sozialwissenschaften am Fachbereich Öffentliche Verwaltung. Zuvor war Marcella Nery Projektkoordinatorin bei Delibera Brasil, einer gemeinnützigen, überparteilichen Organisation, die durch die Förderung der Bürgerbeteiligung zur Stärkung und Vertiefung der Demokratie beitragen will. Letztes Jahr entwickelten sie und ihr Team eine Methode zur Einbeziehung marginalisierter Waldvölker in die erste Klimaversammlung in einer Stadt im Amazonasgebiet.

Frau Nery, Sie forschen zur Einbeziehung von Randgruppen in Brasilien und Deutschland in partizipatorische Prozesse, insbesondere im Hinblick auf den Schutz der Rechte dieser Gruppen und die Erzielung gerechterer Ergebnisse. Können Sie uns ein Beispiel geben, was wir uns darunter vorstellen können?

Partizipative Institutionen werden oft als Instrumente zur Abschwächung traditioneller politischer Ungleichheiten beschrieben, indem sie ausgeschlossenen Akteurinnen und Akteuren Zugang gewähren. Sie sind jedoch nicht immun gegen Kritik, insbesondere wegen ihrer Tendenz, soziale und politische Ungleichheiten innerhalb ihres Rahmens zu reproduzieren. Empirische Untersuchungen zeigen immer wieder, wie sehr sozioökonomische Ungleichheiten das politische Engagement prägen und die Beteiligung an deliberativen und partizipativen Institutionen einschränken. Dies führt häufig zur Unterrepräsentation von Randgruppen, wie z. B. Menschen aus der Arbeiterklasse und schwarzen Frauen aus Quilombola-Gemeinschaften in Brasilien - Gemeinschaften, deren Erbe in der Widerstandsfähigkeit versklavter Afrikanerinnen und Afrikaner verwurzelt ist, was auch im Fokus meiner Masterarbeit stand.

Meine Masterarbeit hat beispielsweise gezeigt, dass Frauen aus diesen ethnischen Gruppen, die in partizipativen Räten für öffentliche Angelegenheiten mitarbeiten - institutionelle Gremien, die neben Regierungsvertretern auch Bürgerinnen und Bürger in Entscheidungsprozesse einbeziehen sollen - bei der Beeinflussung von Entscheidungen auf erhebliche Hindernisse stoßen. Sie können zwar Probleme wie den fehlenden Zugang zu grundlegenden sanitären Einrichtungen oder wichtigen Medikamenten für häufige Gesundheitsprobleme in ländlichen schwarzen Gemeinden ansprechen, doch werden diese Anliegen oft nicht in die endgültigen Empfehlungen der partizipativen Prozesse aufgenommen. Das bedeutet, dass ihre Beteiligung nicht immer zu substanziellen Ergebnissen führt, was Wissenschaftler*innen als „deliberative Ungleichheit“ bezeichnen. Sie sind zwar physisch präsent, aber bei wichtigen Entscheidungen unterrepräsentiert, so dass die sozialen und politischen Ungleichheiten, die durch partizipative Prozesse beseitigt werden sollen, fortbestehen.

Wie kam es dazu, dass Sie sich entschieden haben, genau diese beiden Länder zu betrachten? Welche Gemeinsamkeiten der Länder zeichnen sich in Ihren Forschungen bereits ab? Wo sehen Sie Unterschiede?

Brasilien ist weltweit ein Pionier im Bereich der Bürgerbeteiligungsinstitutionen und führte 1989 den ersten Bürgerhaushalt der Welt ein. Heute verfügt das Land über mehr als 40.000 partizipative Einrichtungen auf lokaler, staatlicher und nationaler Ebene. Im Gegensatz dazu experimentierte Deutschland als erstes Land mit der deliberativen Demokratie durch die zufällige Auswahl der Bürger per Losverfahren. Im Laufe der Zeit haben verschiedene föderale Einheiten in Deutschland ihre eigenen, auf dem Losverfahren basierenden Partizipationsverfahren entwickelt. Auf nationaler Ebene hat der Deutsche Bundestag beispielsweise die Einrichtung der ersten vom Parlament beauftragten Bürgerversammlung beschlossen. Auch die Stadt Pinneberg hat in diesem Jahr als eine der ersten Kommunen eine Bürgerjury mit anschließendem Bürgerentscheid eingeführt. Diese Beispiele bieten wertvolle Einblicke für Brasilien, zumal das Land bisher noch keine größeren Versuche unternommen hat, partizipative Prozesse in die parlamentarische Entscheidungsfindung zu integrieren oder, wie bei Volksabstimmungen, die öffentliche Meinung mit partizipativen Institutionen in Einklang zu bringen. Der deutsche Ansatz ist ein wichtiges Beispiel für eine fortschreitende Institutionalisierung der Beteiligung.

Andererseits haben sich die partizipatorischen Prozesse in Brasilien entwickelt, um tief verwurzelte soziale, ethnische und wirtschaftliche Ungleichheiten zu bekämpfen und gleichzeitig den Einfluss vielfältiger und dynamischer sozialer Bewegungen zu bewältigen, die diese partizipatorischen Räume gestalten und anfechten. Ein Großteil der brasilianischen Literatur befasst sich mit den verschiedenen Gruppen, die an diesen Prozessen beteiligt sind, und mit ihren Praktiken zur Beeinflussung der öffentlichen Agenda durch partizipative Bemühungen. Als Praktikerin habe ich beobachtet, wie diese Gruppen partizipatorische Räume steuern und einnehmen, wie Ungleichheiten in ihnen fortbestehen, und habe im vergangenen Jahr aktiv daran gearbeitet, diese Asymmetrien zu verringern.

Während der ersten Klimaversammlung, die in einer Stadt im Amazonasgebiet stattfand, habe ich die Bemühungen koordiniert, indigene Völker, Paranusssammler, ländliche ethnische Gemeinschaften und Flussbewohner einzubeziehen. Der Prozess wurde so gestaltet, dass er sich an ihren sozialen Vorstellungen orientierte und es diesen Gemeinschaften ermöglichte, partizipatorische Methoden mitzugestalten, die ihre kulturellen Praktiken, kommunalen Dynamiken und Entscheidungstraditionen widerspiegelten. Mit diesem Ansatz wurde der Beratungsprozess grundlegend umgestaltet.

Solche integrativen Praktiken in Brasilien ähneln den jüngsten Bemühungen in Deutschland, marginalisierte Gruppen wie Migranten, Obdachlose, Menschen mit geringem Bildungsniveau und in jüngster Zeit auch Jugendliche einzubeziehen - eine Bevölkerungsgruppe, die sich als besonders schwierig für partizipative Prozesse erwiesen hat. Diese Erfahrungen bieten eine Gelegenheit zum Dialog, um gemeinsame Herausforderungen zu beleuchten und Wege zur Stärkung einer sinnvollen Partizipation in unterschiedlichen Kontexten aufzuzeigen.

Sie haben einen Masterabschluss in öffentlicher Verwaltung und einen in Soziologie sowie einen Bachelorabschluss in Architektur und Stadtplanung – das klingt erst mal nach einer ungewöhnlichen Kombination. Wie kam es dazu? Und inwiefern ergänzen sich diese drei Themenfelder in Ihrer Forschung?

Während meines Bachelorstudiums in Architektur und Stadtplanung habe ich einen umfassenden Einblick in die großen Herausforderungen gewonnen, die mit der Entwicklung einer Stadtpolitik verbunden sind, die marginalisierte Gruppen wie Hausbesetzer*innen, Obdachlose und die Mehrheit der Bewohner*innen in den Außenbezirken São Paulos wirklich einbezieht. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, wie sich diese Gruppen organisieren, um ihre Vertretung in partizipativen Strukturen wie Bürgerhaushalten und partizipativen Räten für Wohnungsbau und Stadtplanung sicherzustellen. Um zu verstehen, wie diese partizipativen Räume in der Praxis funktionieren, habe ich mich mit der Theorie sozialer Bewegungen befasst, insbesondere im Zusammenhang mit partizipativen Institutionen - ein Schwerpunkt, den ich im Kontext der Soziologie untersucht habe.

Mit der Zeit wurde mir klar, dass es nicht ausreicht, sich nur auf die sozialen Bewegungen zu konzentrieren, sondern dass es ebenso wichtig ist, ihre Interaktionen mit den staatlichen Strukturen zu untersuchen, um die Herausforderungen und Fortschritte, die wichtige Entscheidungen beeinflussen, vollständig zu erfassen. Diese Erkenntnis veranlasste mich, einen Masterabschluss in öffentlicher Verwaltung zu machen, einem Bereich, der sich in den letzten Jahrzehnten vor allem in Brasilien der Analyse der Dynamik zwischen Gesellschaft und Staat gewidmet hat, insbesondere bei Maßnahmen zur Förderung und Ausweitung von Praktiken der sozialen Gerechtigkeit.

Das Thema Demokratie ist gerade aktueller denn je. Was hat Sie dazu bewogen, sich mit partizipatorischen Prozessen zu beschäftigen – und wo wünschen Sie sich, abgeleitet aus Ihren Forschungsergebnissen, Anknüpfungspunkte in die Praxis?

Seit mehr als 5.000 Jahren haben wir verschiedene Formen der Demokratie entwickelt - Wahl-, Direkt-, Beratungs- und Partizipationsdemokratie - oft in getrennten und zuweilen konkurrierenden Wellen. Jetzt erleben wir jedoch einen theoretischen Wandel von diesen isolierten „Wellen“ zu miteinander verbundenen „Ökosystemen“, in denen verschiedene demokratische Praktiken im Gleichgewicht zusammenarbeiten. Lerners Arbeit „From Waves to Ecosystems: The Next Stage of Democratic Innovation“ erklärt dieses Konzept und dient als Grundlage für meine Forschung.

Traditionell stellen wir uns die Demokratie als ein festes und einzigartiges System vor, vor allem als ein System, in dem die Menschen ihre Regierenden wählen. Wenn diese Wahlen frei und fair sind, gilt die Demokratie als etabliert. Wenn wir jedoch die Demokratie als ein Ökosystem betrachten, erkennen wir, dass sie vielfältiger, vernetzter und dynamischer ist. Wir können nicht die gesamte Last des politischen Wandels allein den Wahlen aufbürden. Viele wichtige Entscheidungen für soziale Gerechtigkeit, insbesondere auf lokaler Ebene, wurden durch Prozesse wie Bürgerhaushalte und Gemeindeversammlungen getroffen. Diese partizipativen Institutionen - wie Volksabstimmungen, partizipative digitale Demokratie und legislatives Theater - können verschiedene Akteure in der politischen Landschaft auf unterschiedlichen Ebenen beeinflussen und neue Wege für den sozialen Wandel schaffen.

Mein Ziel ist es, Fälle von Inklusion marginalisierter Gruppen in Deutschland zu analysieren und dabei Wissen und Praktiken aus dem Globalen Süden in Bezug auf inklusive Deliberation und Konzepte sozialer Gerechtigkeit zu nutzen. Ich plane, einen Bericht zu veröffentlichen, der die wichtigsten Praktiken aufzeigt, um sowohl das empirische Feld durch konkrete Fallstudien als auch das theoretische Feld zu beeinflussen, indem ich Einblicke in Indikatoren für die Bewertung dieser Praktiken biete und sie in laufende akademische Diskussionen integriere.

Gibt es etwas, dass sie sich noch fest für Ihre Zeit in Berlin vorgenommen haben?

Ich bin mit der brasilianischen Literatur tief verbunden. Schwarze Autorinnen und Autoren wie Conceição Evaristo, Sueli Carneiro, Carolina Maria de Jesus und Lélia Gonzalez haben mich in meiner beruflichen Tätigkeit bereichert - nicht, weil sie sich direkt mit der Berufsethik auseinandersetzen, sondern weil sie die sozialen Ungleichheiten meines Volkes auf kraftvolle, poetische Weise zum Ausdruck bringen. Ihre Worte bringen Poesie in die Welt und Tiefe in einen Austausch, der auf sozialer Gerechtigkeit beruht. Ich freue mich darauf, die großen literarischen Stimmen Berlins und Europas zu entdecken und mit ihnen zu reisen. Ich liebe es auch, mit dem Fahrrad zu reisen; ich bin bereits durch Brasilien, Chile und Uruguay in Lateinamerika geradelt und kann mein erstes Fahrradabenteuer in Deutschland kaum erwarten.

Stipendienprogramm

Das Bundeskanzler-Stipendienprogramm der Alexander von Humboldt-Stiftung richtet sich an Hochschulabsolventinnen und -absolventen aus Brasilien, China, Indien, Südafrika und den USA, die eine internationale Ausrichtung und erste Führungserfahrung haben. Das Stipendienprogramm steht unter der Schirmherrschaft des deutschen Bundeskanzlers und wird vom Auswärtigen Amt finanziert.

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