Kinder im Netz sexualisierter Gewalt
Eine neue Studie von World Vision zeigt Ausmaß und Auswirkungen digitalisierter sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ein Interview mit Soziologin Prof. Dr. Caterina Rohde-Abuba.
Zur Person
Dr. Caterina Rohde-Abuba ist Professorin für Soziologie an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Gender, Flucht und Migration, Familie und Kinder sowie Religion. Prof. Dr. Caterina Rohde-Abuba veröffentlicht regelmäßig Studien zu diesen Themen. Am 19. September 2023 sind in Zusammenarbeit mit der international tätigen Hilfsorganisation World Vision Deutschland e. V. die Ergebnisse einer von ihr geleiteten umfangreichen Untersuchung erschienen unter dem Titel „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder im digitalen Raum“.
Prof. Rohde-Abuba, Polizei, Justiz und Politik gehen seit Jahren entschieden gegen Missbrauchsdarstellungen von Minderjährigen („Kinderpornographie“) im Internet vor, zum Teil sehr öffentlichkeitswirksam. Zeigt das Wirkung?
Ich würde in Frage stellen, wie entschieden oder vor allem wie bedarfsgerecht dieses Vorgehen ist. Unsere Studie legt nahe, dass Kinder ein hohes Risiko tragen, im Internet sexualisierte Gewalt zu erleben – nach neuen Daten aus Nordrhein-Westfalen wurde circa ein Viertel der Minderjährigen in Deutschland bereits von einem fremden Erwachsenen im Internet angesprochen und zu einem Treffen eingeladen.
Ein Viertel der Minderjährigen in Deutschland wurden bereits von einem fremden Erwachsenen im Internet angesprochen.
Wie gehen die betroffenen Minderjährigen damit um?
Wenn Kinder und Jugendliche sexualisierte Gewalt im Internet erleben, sind sie darauf in der Regel überhaupt nicht vorbereitet und wissen auch nicht, an wen sie sich wenden können, weil Fachkräfte und Eltern selten sensibilisiert sind. Viele junge Menschen versuchen dann diese teilweise sehr traumatischen Erlebnisse „mit sich selbst auszumachen“ oder wenden sich an Gleichaltrige. Aber vermutlich wird ein Großteil der Taten weder Eltern, noch Fachkräften, noch der Polizei bekannt.
Welche Formen der sexualisierten Gewalt gegen Kinder im Internet haben Sie für Ihre Studie untersucht, und wie sind Sie vorgegangen?
Wir haben versucht, das Thema in seiner Breite zu untersuchen – mithilfe von Expert*innen-Interviews und Interviews mit betroffenen jungen Menschen.
Natürlich gibt es die sehr stereotypen Formen sexualisierter Gewalt im Internet, die der Öffentlichkeit bekannt sind: die Online-Ansprache durch Erwachsene (und Gleichaltrige) zum Zwecke des sexualisierten Missbrauchs („Cybergrooming“) und der digitale Handel mit Missbrauchsdarstellungen. Eine weitere, sehr drastische Form ist der Live-Stream-Missbrauch, bei dem Minderjährige nach Anweisungen der Tatpersonen sexualisierte Handlungen an sich vornehmen bzw. diese von einer dritten Person an ihnen vorgenommen werden.
Bilder, Videos oder Chat-Verläufe werden auch zur Erpressung eingesetzt.
Ja, weniger bekannt, aber ebenso dramatisch für die Betroffenen sind Formen sexualisierter Gewalt unter Gleichaltrigen. Junge Menschen verbringen heute viel Zeit im Internet und unterhalten ihre persönlichen Beziehungen zum Teil mit digitalen Mitteln. Hierzu kann auch gehören, dass sie (einvernehmlich und gegenseitig) intime Bilder und Videos teilen – das Sexting. Wenn eine Beziehung endet, Vertrauen missbraucht wird oder eine dritte Person unerlaubt auf die Handys zugreift, können diese Daten weiterverbreitet werden. Manchmal geht es dann darum, Scham auszulösen. Die Daten können aber auch zur systematischen Erpressung (Sextortion) instrumentalisiert werden.
Wenn Kinder und Jugendliche sexualisierte Gewalt im Internet erleben, sind sie darauf in der Regel überhaupt nicht vorbereitet und wissen auch nicht, an wen sie sich wenden können.
Welche digitalen Plattformen und Technologien werden von Tätern und Täterinnen genutzt, um Kinder online zu missbrauchen?
Der entscheidende Punkt ist, dass vermutlich nur ein kleiner Teil sexualisierter Gewalt im Darknet erfolgt. Wesentlich bedeutender ist das Clearnet. Im Prinzip kann sexualisierte Gewalt auf allen Plattformen und Apps stattfinden, die Kinder und Jugendliche nutzen, da nirgendswo effektive Schutzmechanismen bestehen. Das kann zum Beispiel die Zusendung von sexualisierten Bildern auf Instagram oder Facebook umfassen oder die Ansprache über Online-Spiele. Dass diese Taten oder Tatanbahnungen häufig im Clearnet erfolgen, macht es für junge Menschen umso schwerer sie einzuordnen, weil sie beispielsweise bei einem Spiel gar nicht darauf gefasst sind, dass es hier zu sexualisierten Übergriffen kommen könnte. Eltern wissen dies in der Regel auch nicht und können ihre Kinder deswegen nicht darauf vorbereiten.
Welche neuen Trends oder Muster in Bezug auf den Missbrauch von Kindern im Internet gibt es?
Eigentlich keine. Alles was wir jetzt sehen, ist Experten und Expertinnen schon lange bekannt und hätte auch in der Politik schon lange zu bedarfsgerechten Schutzkonzepten führen sollen. Allerdings hat sich die Problematik mit den Lockdowns in der Covid19-Pandemie vermutlich noch verstärkt. Einerseits sind durch die Digitalisierung von Bildung und Freizeit jetzt noch mehr Kinder noch länger im Internet – auch jüngere, die reife- und sozialisationsbedingt bisher kaum auf Gefahren sexualisierter Gewalt vorbereitet sind. Andererseits können Tatpersonen mehr Zeit im Homeoffice verbringen und dort neben ihrer Arbeit vom privaten Rechner aus sexualisierte Gewalt ausüben.
Alles was wir jetzt sehen, ist Experten und Expertinnen schon lange bekannt und hätte auch in der Politik schon lange zu bedarfsgerechten Schutzkonzepten führen sollen.
Welche Rolle spielen technologische Entwicklungen in Bezug auf die Verbreitung sexuellen Missbrauchs von Kindern?
Technologische Entwicklungen geben auf der einen Seite Anlass zur Hoffnung, dass sie helfen werden, Missbrauchsmaterial im Netz schneller zu finden und zu löschen und Tatpersonen leichter aufzuspüren. Andererseits gibt es auch eine ganz große Sorge: Missbrauchsmaterial ist im Prinzip unlöschbar. Natürlich kann es von Servern entfernt werden, aber es kann immer auch von Konsumierenden heruntergeladen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder hochgeladen werden. Wenn Gesichtserkennungssysteme noch besser werden, wird es bald möglich sein, die Gesichter junger Menschen auf dem Missbrauchsmaterial Jahre später mit ihren erwachsenen Profilbildern, die sie später zum Beispiel auf Job-Plattformen nutzen, in Verbindung zu bringen. Hier entstehen ganz neue Formen sozialer Ungleichheit, die die digitale Identität betroffener junger Menschen mit ihrem Gesicht für immer verletzen.
Missbrauchsmaterial ist im Prinzip unlöschbar. Das kann die digitale Identität betroffener Kinder und Jugendlichen für immer verletzen.
Wie können Eltern und Erziehungsberechtigte ihre Kinder effektiv vor sexuellem Missbrauch im Internet schützen, und welche Rolle spielen dabei digitale Aufklärung und Prävention?
Die jungen Betroffenen mit denen wir sprachen, haben eigentlich alle gesagt, dass es dringend mehr Bildung und Aufklärung braucht für Eltern und Sensibilisierung. Da Eltern weder verstehen, was ihre Kinder grundsätzlich im Internet machen und welche Dynamiken und Zwänge da herrschen, noch wissen (wollen), dass auch Sexualität Bestandteil dieser Interaktionen sein kann, erscheint es für betroffene Kinder und Jugendliche fast unmöglich, ihren Eltern zu erklären, wie und warum sie in eine bestimmte Notlage geraten sind.
Wie kann so eine Elternaufklärung Ihrer Meinung nach aussehen?
Informiertheit und vor allem Kommunikation sind die Schlüssel. Es geht hier natürlich auch um Scham und Tabuisierung. Aber auch das bloße Nichtverstehen der Eltern, warum ihre Kinder nicht einfach Soziale Netzwerke verlassen können, ist ein Problem. Diese Netzwerke sind nämlich genau das, virtuelle Gruppenräume, in denen sich junge Menschen treffen und austauschen.
Wo fängt man als Elternteil an, wenn man verhindern will, dass die eigenen Kinder Opfer digitalisierten sexualisierten Missbrauchs werden – oder helfen?
Aus meiner Sicht muss der erste Schritt sein, dass sich Eltern intensiv damit beschäftigen, welche Bedeutung das Internet im Leben ihrer Kinder einnimmt, und im zweiten Schritt den Kindern konkrete Orientierung geben, welches Verhalten gefährlich werden könnte – das ist natürlich nicht nur das Versenden intimer Fotos, sondern beispielsweise auch die Preisgabe von Namen, Alter und Wohnort. Ähnlich wie bei der Vorbereitung auf analoge öffentliche Räume würde ich vorschlagen, dass Eltern ihre jüngeren Kinder zunächst im Internet begleiten und Sicherheitsstrategien einüben. Das beginnt bei der Einstellung der Privatsphäre-Optionen. Lassen Sie ihre Kinder damit nicht allein.
Eltern müssen sich intensiv damit beschäftigen, welche Bedeutung das Internet im Leben ihrer Kinder einnimmt und den Kindern konkrete Orientierung geben.
Selbst informierte und engagierte Eltern können die Präventionsarbeit kaum allein stemmen und brauchen Unterstützung, wenn ihr Kind Opfer von Missbrauch im Internet geworden ist
Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu. Grundsätzlich denke ich, dass dieses Problem nicht in den Familien geklärt werden kann, sondern politische Regelungen notwendig sind, die die Plattformanbieter zur Einbindung automatisierter Schutzmechanismen („safe-by-design“) verpflichtet. Auf allen Stufen des Bildungssystems müssen regelmäßige Präventionsarbeit und Kinderschutz noch besser und vor allem an den neuesten Entwicklungen angepasst verankert werden. Und schließlich sollte es für die Polizei eine Verpflichtung geben, kindgerechte Meldestellen explizit für digitalen Missbrauch einzurichten. Die aktuelle Studie „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder im digitalen Raum“ zielt darauf ab, den Verantwortlichen auf allen Ebenen und in allen Bereichen das Ausmaß und die Auswirkungen und damit den dringenden Handlungsbedarf vor Augen zu führen und Hilfestellung bieten, das Thema systematisch und mit Vehemenz anzugehen.
Frau Prof. Rohde-Abuba, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Sylke Schumann, Pressesprecherin der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin).