Häusliche Gewalt in der Corona-Pandemie
Dr. Jana Hertwig vom Harriet Taylor Mill-Institut der HWR Berlin forscht seit vielen Jahren zu den Rechten von Frauen und Kindern. Wie diese besser geschützt werden können, erzählt sie im Interview.
Sie haben den Zusammenhang zwischen den strikten Ausgangsbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie und dem Anstieg häuslicher Gewalt gegen Kinder und Frauen betrachtet. Wo genau lag Ihr Fokus?
Dr. Jana Hertwig: Ich habe untersucht, an welchen rechtlichen Vorgaben sich der Staat orientieren muss, um einen vorläufigen Gewaltschutz für Frauen und Kinder im weiteren Verlauf der Pandemie zu gewährleisten. Als rechtlicher Bezugsrahmen gilt das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention), zu deren Umsetzung sich Deutschland mit der Ratifikation im Jahr 2018 verpflichtet hat.
Im Blickpunkt standen Maßnahmen in den Bereichen Prävention, Schutz und Unterstützung. Näher untersucht habe ich die BMFSFJ-Aktion „Zuhause nicht sicher?“, Schutzunterkünfte in Hotels, Ferienwohnungen und Obdachlosenunterkünften, Systemrelevanz von Frauenhäusern sowie weitere Hilfsangebote wie das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ und die Aktion „Codewort Maske 19“, von der allerdings kaum etwas bekannt ist.
Was war der Auslöser, sich dieses Themas wissenschaftlich anzunehmen?
Dr. Jana Hertwig: Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit dem Schutz und den Rechten von Frauen und Kindern. Dazu forsche und lehre ich – auch an der HWR Berlin ganz aktuell im Studium Generale. Die letzten drei Jahre war ich Mitglied der deutschen Nichtregierungsdelegation von UN Women Deutschland und in dieser Funktion bei der jährlichen Sitzung der Frauenrechtskommission der Vereinten Nationen dabei. Auch dort ist Gewalt, und insbesondere häusliche Gewalt, immer wieder Diskussionsthema. Auslöser für meine aktuelle Forschung zum Thema „Häusliche Gewalt und Corona-Pandemie“ waren die beunruhigenden Berichte aus China zu den steigenden Zahlen von Gewalt gegenüber Frauen.
Zu diesem Zeitpunkt – also zu Beginn der Pandemie – war dies für uns hier in Deutschland und in Europa noch weit weg. Mit meiner Forschung wollte ich dieses Thema wissenschaftlich begleiten und die Öffentlichkeit dafür sensibilisieren. Der alleinige Fokus der Politik und der sie beratenden Virologinnen und Virologen auf die gesundheitlichen Gefahren des Virus und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie war mir zu einseitig. Die Rechte von Kindern und ihre besondere Schutzbedürftigkeit – gerade in so einer weltweiten Krise – wurden kaum gesehen und beachtet. Deshalb plädiere ich auch dafür, Kinderrechte in das Grundgesetz aufzunehmen.
Ganz klar: Vor allem Kinder müssen noch besser vor häuslicher Gewalt geschützt werden. Was kann der rechtliche Rahmen hier ermöglichen – und was nicht?
Dr. Jana Hertwig: Dort, wo häusliche Gewalt passiert, sind regelmäßig auch Kinder betroffen – entweder, weil sie selbst Ziel von Übergriffen werden oder weil sie Zeuginnen und Zeugen von Gewalt in der Familie – meistens gegenüber der Frau, Mutter, Großmutter oder Tante – werden. Die Istanbul-Konvention ist auf alle Opfer häuslicher Gewalt anzuwenden – so auch auf den Schutz von Kindern.
An vielen Stellen der Konvention werden Kinder erwähnt – so zum Beispiel bei der Bereitstellung spezialisierte Hilfsdienste (Artikel 22) und Schutzunterkünfte (Artikel 23) oder beim Schutz und der Unterstützung für Zeuginnen und Zeugen, die Kinder sind (Artikel 26). Schwerpunkt der gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen der Vertragsparteien der Konvention muss ganz klar im Bereich der Prävention liegen. Dort besteht aber bei allen Vertragsparteien – auch bei Deutschland – großer Handlungsbedarf.
Unser Themenjahr steht unter dem Motto „Wir übernehmen Verantwortung.“ Wen sehen Sie außerhalb der Familie in der Verantwortung, um vor allem Kinder (gerade jetzt in der Pandemie) vor häuslicher Gewalt zu schützen?
Dr. Jana Hertwig: Verantwortung müssen wir alle übernehmen – in der Nachbarschaft, im Bekannten- und Verwandtenkreis, in Kindergarten und Schule, um nur einige zu nennen. Gerade während der strikten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen ist diese Verantwortung allerdings weggefallen, weil jede Familie unweigerlich für sich blieb. Häusliche Gewalt fand deshalb hinter einer eisigen Mauer statt. Dies darf nicht wieder geschehen. Ich fordere deshalb auch unter anderem, dass Frauenhäuser bei einem nächsten Lockdown von Anfang an systemrelevant – und damit offen – bleiben müssen. Gleiches gilt natürlich auch für Frauen-, Familien- und Kinderberatungsstellen.
Zur Person
Dr. Jana Hertwig ist seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) am Harriet Taylor Mill-Institut für Ökonomie und Geschlechterforschung und leitet dort den Schwerpunktbereich „Recht und Gender“. Seit 2017 ist sie zudem als Lehrbeauftragte an der HWR Berlin tätig. Seit 2018 ist sie Berichterstatterin zur UN-Kinderrechtskonvention für die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V., Berlin.